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Allgemein Alltag unterwegs Zu Gast auf lydiaswelt

Challenge Baustelle

Meine Gastautorin Andrea Eberl ist 58 Jahre alt und von Geburt an blind. Ihr Begleiter ist der 3 jährige Blindenführhund Frodo, ein schwarzer Labrador. Andrea ist gemeinsam mit sehenden Menschen Autorin von Audiodeskriptionen (Filmbeschreibungen für Blinde). In ihrer Freizeit schreibt sie Artikel für verschiedene Blogs wie z.B. Kobinet e.V.. Andrea reist gerne. Am Liebsten schläft sie in ihrem Zelt unter freiem Himmel. Seit 2020 betreibt sie einen Podcast mit dem Titel „Blind auf Reisen“, in dem es hauptsächlich um ihre Reisen nach Griechenland geht, aber auch der Besuch anderer Orte findet darin seinen Platz.

Andrea hat viele Jahre Musik gemacht. Hier geht es zu ihrer Seite.

Challenge Baustelle

Mein Blindenführhund Frodo und ich erwachen nebeneinander in meinem großen Bett. Wir kuscheln ein bisschen, und dann klettern wir die Treppe vom Hochbett hinunter. Es ist 10.15 Uhr. Ich ziehe mich an, nehme den Blindenführhund ins Geschirr, und wir gehen los. Um 12.30 Uhr muss ich im Fitnesscenter sein. Das schaffen wir locker, denke ich.
Wir gehen die Rheydter Straße entlang und überqueren den Siegesplatz. Links von uns ist ein Bauzaun, der signalisiert, dass wir nur einen schmalen Bordstein rechts davon zur Verfügung haben. Der Platz der Deutschen Einheit wird seit einigen Monaten umgebaut. Daran haben wir uns gewöhnt.
Heute finden wir eine andere Situation vor. Der schmale Bordstein, über den wir bis gestern Abend noch gehen konnten, wird aufgerissen. Es ist laut, und mir ist klar, ich komme nicht wie gewohnt weiter. Vor uns taucht ein Bauarbeiter auf. „Hier können sie nicht weiter gehen“, gibt er mir zu verstehen. „Wie komme ich denn weiter? Ich möchte an die Erft.“, antworte ich. „Sie müssen hier rüber und dann da…“ Ich möchte irgendwie an der Baustelle vorbei und die Straße überqueren, um zum Kreisverkehr zu kommen, davon ausgehend, dass im Moment an der Stelle kein Auto fahren darf. Der Hund und ich möchten nach rechts ausweichen und auch dem Lärm entfliehen. „Hier können sie nicht rüber. Da laufen sie in den Verkehr hinein“, sagt der Mann. Sie müssen da und dann rechts“ „So können sie mir das nicht erklären“, antworte ich. „Bitte gehen sie vor, und der Hund geht nach.“ Der Mann folgt meinen Anweisungen und geleitet uns über die Straße. Dafür bin ich ihm dankbar. Wir kommen aber woanders an als üblich. „Wo sind wir jetzt?“ frage ich, als wir den Bordstein erreichen. Der Mann nimmt meinen Taststock in der Mitte und bewegt ihn auf ein paar Noppen. „Spüren sie die Noppen?“ fragt er. „Ja“, antworte ich. „Deshalb weiß ich aber trotzdem nicht, wo ich bin.“ „Ich will ihnen nur helfen“, sagt der Mann, von meinem Tonfall irritiert. Er versteht nicht, dass ich gestresst bin. Er nimmt den Tonfall persönlich und geht. Er hat mir ja geholfen und sein Bestes gegeben. Er versteht das Problem nicht. Er hat den Hund und mich doch in Sicherheit gebracht.
Der hilfsbereite Mann hat uns irgendwo abgestellt, und nun muss ich herausfinden, wo wir sind. Ich nehme mein iPhone zur Hand, drücke den Home-Button und sage: „Lazarillo öffnen!“ Lazarillo heißt eine, der für Blinde geeigneten, Apps, über die ich mich orientieren möchte. Unter meinen Favoriten befindet sich der Eingang zum Park in der Erkensstraße 5. Ich starte die Verfolgung. „Richtung Nordosten“, sagt die Stimme der Navigationsapp. Das hilft mir nicht weiter. Ich stehe irgendwo und weiß nicht, wo Nordosten ist. Ich kann kein Licht sehen, also kann ich mich auch nicht an der Sonne orientieren. Ein Mann kommt auf uns zu und fragt, ob er mir helfen kann. „Ja bitte“, antworte ich. „Wo sind wir?“ „Hier ist die Arztpraxis Doktor…“ Den Namen hab ich inzwischen vergessen. „Wo möchten sie in?“ „Ich möchte an die Erft bei der Erkensstraße…“ Der Mann hat keine Orientierung über die Straßennamen. Er braucht sie nicht. Er orientiert sich über Geschäfte, Arztpraxen, öffentliche Gebäude und ähnliche optische Merkmale. Das ist verständlich, aber ich kann nicht sehen, welche Arztpraxis und welches Geschäft sein Orientierungspunkt ist, und wenn ich mit dem Navi unterwegs bin, lasse ich mir nicht jedes Gebäude ansagen, weil es mich überfordern würde, ständig die Sprachausgabe im Ohr zu haben und mich gleichzeitig auf den Hund und den Weg konzentrieren zu müssen. Deshalb hilft mir die Orientierungsweise sehender Menschen nicht weiter. „Kann ich ihnen helfen?“ fragt er nochmal. „Nein“, antworte ich. „Ich muss selbst herausfinden, wo ich bin.“ Der Mann geht.
Ich bewege mich weiter in eine der beiden möglichen Richtungen. Schließlich bitte ich den nächsten Mann, der gerade in ein Gespräch verwickelt war, mir zu helfen. Ich habe Glück. Er arbeitet seit Jahren bei der Stadt und kann mit meiner Ansage: „Ich möchte beim alten Finanzamt vorbei in der Erkensstraße an die Erft!“ etwas anfangen. Der Mann geleitet uns auf die richtige Straßenseite, erklärt mir, wo wir sind und wie ich zu dem von mir gesuchten Eingang zum Stadtpark finde. Ich bin erleichtert.
Endlich im Park angekommen, kann mein Hund sich lösen. Der Arme hat es schon sehr eilig gehabt. Während des kurzen Spaziergangs überlege ich, wie wir stressfrei zurück nachhause kommen: Wenn wir am griechischen Restaurant vorbei die Straße überqueren und dann durch die Bahnstraße am Fitnesscenter vorbei gehen… Aber geht das überhaupt, oder ist dort auch noch alles aufgerissen? Wir landen erfolgreich im Fitnesscenter, und ich frage dort nach, ob die Strecke von der Bahnstraße über die Dechant-Schütz-Straße, eine andere Querstraße, die direkt zu unserem Haus führt, frei begehbar ist. Glücklicherweise ist sie das seit kurzem. Zu meinem Termin im Fitnesscenter komme ich zu spät, weil es zuvor einiges an Kommunikation gebraucht hat, bis ich meinen Weg weiter gehen konnte.
Seit März oder April 2021 wird in meiner unmittelbaren Nähe gebaut. Als ich noch mit meiner alten Blindenführhündin Enny unterwegs war, wurde die Rheydter Straße, das ist die Hauptstraße, in der ich wohne, neu gemacht. Dieser Umbau hat etwa drei Monate gedauert. Ganz abgesehen vom Lärm vor der eigenen Haustür war es für die Hündin und mich schwierig, uns zurecht zu finden, weil es täglich herausfordernde Veränderungen gab. Die Rheydter Straße ist jetzt, dank der Umbauten, barrierefrei.
Seit April dieses Jahres, seit mein neuer Blindenführhund Frodo bei mir ist, wird und wurde in der Bahnstraße, das ist die Parallelstraße zur Rheydter Straße, und über die Dechant-Schütz-Straße der Weg zum Bahnhof neu gemacht. Später kam dann auch noch die Baustelle auf dem Platz der deutschen Einheit dazu, die uns heute Morgen vor das beschriebene plötzliche Problem gestellt hat. Das bedeutet, dass wir z.B. unseren Weg zum Park in mehreren Varianten kennengelernt und eingeübt haben. Der Blindenführhund hat ein gutes fotografisches Gedächtnis und eine schnelle Auffassungsgabe, wodurch er sich neue Wege schnell einprägen kann. Für blinde Menschen, die ohne Hund, mit dem Langstock, unterwegs sind, stellen drei Baustellen gleichzeitig ein noch größeres Problem dar als für mich, die ich mit meinem tollen Helfer auf vier Pfoten unterwegs bin.
Ich finde es notwendig, dass künftig Menschen, die auf dem Bau arbeiten, darin geschult werden, wie man uns blinden Menschen helfen kann, ohne uns, nachdem man uns in Sicherheit gebracht hat, an einer für uns unbekannten Stelle abzustellen. Dafür muss man sich ein bisschen Zeit nehmen. Z.B. wäre es eine Möglichkeit, dass der blinde Straßenpassant den Standort, zu dem er möchte, mit dem Mann am Bau über sein Smartphone teilt. Wenn er gut beschreiben kann, könnte er den blinden Straßenpassanten verbal in die richtige Richtung navigieren oder ihn an eine Stelle führen, wo er sich wieder auskennt. Vielleicht gäbe es auch die Möglichkeit, eine barrierefreie App zu entwickeln, auf die Bauarbeiter und Straßenpassanten gleichzeitig zugreifen können, um Situationen zu vermeiden, in denen der, der helfen will, nicht adäquat helfen kann und sich deshalb unzufrieden zurück gelassen fühlt, und der blinde Mensch seine Orientierung verliert. So könnten die Menschen auch lernen, wie man einen blinden Menschen führt und wie man Hilfe anbieten soll.

Es ist ungeheuer wichtig, dass der helfende Mensch weiß, was der Mensch mit Behinderung braucht. Da ist noch sehr viel Aufklärung notwendig.

Danke Dir, Andrea, für Deinen Gastbeitrag.

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Barrierefrei heißt nicht nur stufenlos

Blinde Menschen orientieren sich an markanten Punkten oder Merkmalen im Straßenverkehr. Das können Hauseingänge sein, Einfahrten oder auch mal ein Verteilerkaste. Ein Hauseingang, der bestimmte Stufen oder eine bestimmte Geräuschumgebung hat, ist für mich ebenfalls eine Unterstützung. Wichtig ist dabei, dass dieses Merkmal immer da ist.
Ebenso wichtig ist für mich die Beschaffenheit des Untergrunds. Wenn sich neben dem Fußweg ein Radweg befindet, reicht es nicht aus, dass er optisch sichtbar ist. Für mich ist es wichtig, dass der Untergrund sich von dem des Gehwegs unterscheidet. Dann kann ich den Unterschied mit dem Blindenstock ertasten. Auch eine kleine, fühlbare Absenkung wäre denkbar.
Bei Straßenübergängen sieht es ähnlich aus. Während für Nutzer eines Rollstuhls oder eines Rollators möglichst eine Nullabsenkung, also gar keine Stufe optimal ist, brauchen blinde Menschen eben diese Absenkung, um zu merken, dass sie den sicheren Gehweg verlassen. Dabei muss die Stufe für uns blinde Menschen gar nicht so hoch sein. Sie muss nur mit der Stockspitze eines Blindenlangstocks tastbar sein. Dafür genügen schon ca. 3 cm. Gut gemachte taktile Leitstreifen für Menschen mit Sehbehinderung haben längs und quer verlaufende Rillen. Diese zeigen einmal an, dass wir hier gefahrlos bis zum Straßenrand kommen, und an welcher Stelle wir besser nicht laufen. Dafür verlaufen Rillenplatten dann quer zur Laufrichtung. Das wird gern gemacht, wenn sich dahinter eine Nullabsenkung für Rollstuhlfahrer befindet.
Die quer verlaufenden Streifen findet man auch immer öfter vor Treppen. Das ist ein Tastbarer Hinweis darauf, dass ein Treppenauf- oder Treppenabgang vor einem liegt. Wenn die Platten gut gemacht sind, heben sie sich gut sichtbar vom Untergrund ab. So können auch sehbehinderte Fußgänger, die nicht auf einen Blindenstock angewiesen sind, erkennen, dass sie vorsichtig sein sollen.
Ein Irrglaube ist, dass blinde Menschen lieber mit dem Aufzug fahren als Treppen zu laufen. Doch blind alleine in einen unbekannten Aufzug zu steigen ist ein Lottospiel, wenn dieser keine Sprachausgabe hat, die das Stockwerk ansagt. Selbst wenn ich es schaffe den Knopf für ein bestimmtes Stockwerk zu drücken, gibt es nichts und niemanden, der mir garantiert, dass der Aufzug nicht vorher woanders hält. Es reicht also nicht aus Aufzüge mit fühlbaren Zahlen und Beschriftung in Braille auszustatten. Barrierefrei sind sie erst, wenn sie das angefahrene Stockwerk ansagen. Eine Ausnahme sind Aufzüge, die nur zwei Ebenen anfahren. Vor einigen Wochen ist mir ein Aufzug begegnet, dessen Bedienelemente ausschließlich auf Berührung reagieren. Auch das schließt blinde Menschen aus.
Ein großes Thema sind öffentliche Verkehrsmittel. Am besten sind eindeutige Haltepositionen für Bus und Bahn, wie ich in meinem Beitrag Wenn der Bus woanders hält beschrieben habe. Während für Menschen mit Gehbehinderung es einfacher ist hinten einzusteigen, brauchen blinde Menschen die Vordertür, um den Busfahrer nach der einfahrenden Buslinie zu fragen. Ausführlicher habe ich das in Öffentlicher Nahverkehr, diese Infos brauche ich behandelt. In vielen Städten hält der Bus nur dann, wenn jemand den Halteknopf gedrückt hat. Dafür braucht man richtig gehende und verständliche Haltestellenansagen. Davon profitieren nicht nur Menschen mit Sehbehinderung, sondern auch Fahrgäste, die nicht ortskundig sind, oder die optische Anzeige aus anderen Gründen nicht lesen können.
Barrierefreiheit ist ein Oberbegriff für Hindernisse, die uns im Alltag begegnen. Und sie fühlen sich für jeden anders an. Also, wenn Ihr die Möglichkeit zu einem Perspektivwechsel habt, nehmt diese Möglichkeit wahr, und erweitert damit Euren Horizont.

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Fasst uns nicht ungefragt an

U-Bahnstation Frankfurt Südbahnhof. Es ist Samstagmittag, und ich warte auf meine U-Bahn. Als sie einfährt suche ich mit dem Stock die Tür, indem ich an der Bahn entlangfahre. Ah, da ist sie. Ich bleibe kurz stehen, weil ich hören will, ob jemand in der Tür steht. Dann strecke ich meinen Blindenstock aus, um einzusteigen. Bevor ich das machen kann, kommt eine Hand aus dem nichts, hält mich mit festem Griff am Arm und schiebt. Ich verdanke es meinen guten Reflexen, dass ich nicht vornüberfalle. Ich drehe mich um, befreie mich aus dem Griff und sage der Person, die noch kein Wort zu mir gesprochen hat, dass sie mich erschreckt hat. „Ich wollte doch nur helfen“, sagt sie etwas beleidigt. Jetzt erst höre ich, dass es sich um eine Frau handelt. Ich sage ihr, dass man fremde Menschen nicht ungefragt anfasst. Daraufhin knurrt sie etwas wie „Ich wollte nicht, dass Sie stolpern“. Und weg ist sie.
Solche und ähnliche Situationen erlebe ich beinahe täglich. Für mich heißt das, dass ich schon in eine Art Habachtstellung gehe, wenn ich irgendwo ein- oder aussteige. Ich rechne ständig mit unangekündigten, übergriffigen Berührungen, die mir das Leben angeblich erleichtern sollen. Dabei nervt es dermaßen.
Wenn ich beim Einsteigen meinen Stock ausstrecke, ertaste ich damit wie hoch die Bahn oder der Bus ist, ob es einen Spalt zwischen Bahn und Bahnsteigkante gibt, oder ob ein Hindernis vor mir liegt. Beim Aussteigen verfahre ich ähnlich. Diese Dinge gehören zur Ausbildung im Umgang mit dem Blindenstock. Im Grunde ist das Ein- und Aussteigen einfach eine Technik gepaart mit Konzentration. Das Tasten mit dem Stock liefert mir zuverlässige Informationen. Dieser Prozess wird gestört, wenn ich irgendwohin geschoben, gezogen oder gar am Stock geführt werde. Letzteres fühlt sich an als würde man einen Brillenträger an der Brille irgendwohin ziehen, und dabei die Gläser zuhalten.
Ein erwachsener Mensch, der mit einem Blindenstock unterwegs ist, weiß was er tut. Es besteht also keine Notwendigkeit ungefragt tätig zu werden. Wenn Ihr dennoch der Ansicht seid helfen zu wollen, dann sprecht die Person an. Ein Satz wie „Brauchen Sie Hilfe“, „Darf ich helfen“ oder „Kommen Sie zurecht“ sind gute Beispiele. Auf diese Weise behandelt Ihr den Menschen wie eine erwachsene Person. Wenn mich jemand so anspricht, kann ich die Person einordnen. Und ganz wichtig, ich kann ihr sagen wie sie mir am besten helfen kann. Kommt aber aus dem Nichts eine Hand an meinen Körper, weiß ich erst mal nicht, ob das Freund oder Feind ist. Denn ich sehe die dazugehörige Person nicht.
Und jetzt noch ein paar Worte an die Menschen, die Menschen mit Behinderung gern mal Undankbarkeit vorwerfen, nur weil sie die aufgedrängte Hilfe ablehnen. Dankbar bin ich den Menschen, die in mir nicht nur die „Blinde“ sehen, sondern eine erwachsene Frau, die sich mit der Hilfe eines Blindenstocks orientiert. Menschen, die nicht nur die Perspektive „Wenn ich sehend die Augen zu mache, sehe ich nichts“ sehen, sondern akzeptieren, dass es auch andere Möglichkeiten gibt sich zurechtzufinden.
Wenn Ihr mir was Liebes tun wollt, verbreitet das. Helft mir und anderen Menschen mit Sehbehinderung dabei nicht ständig Opfer übergriffiger Menschen zu werden.

Eure Lydia

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Fragen und Antworten zum Blindenstock

Es ist Samstagmittag, als ich an der Station Frankfurt Süd in die U-Bahn steigen will. Mit dem Stock taste ich nach dem Eingang der Bahn und ob jemand vor mir ist. Eine Frau drängelt sich an mir vorbei, und tritt so auf den Stock, dass er mir aus der Hand gerissen wird, und an einer Stelle komplett durchgebrochen ist. Als ich die Dame darauf aufmerksam mache, erklärt sie mir, dass ich ihr den Stock ja zwischen die Beine geschoben habe. Mehr interessiert sie nicht. Ebenso wie die anderen Fahrgäste. Zwei Stationen weiter merke ich, dass ich so nicht weiterkomme und dass es ratsamer ist wie geplant hier umzusteigen. Ich bin ortskundig und es gibt hier Leitstreifen, die mir in meinem geschockten Zustand weiterhelfen können. Ich steige in meine geplante Bahn um, und steuere einen Laden an, wo ich bereits Stammkundin bin. Der Mitarbeiter klebt mir den Stock so mit Klebeband zusammen, dass ich mit dem Stock nach Hause kommen kann.
Zuhause mache ich mir erst mal in einer regionalen Gruppe auf Facebook Frankfurts Luft, und suche nach Zeugen. Denn ich habe die Dame, die mir meinen Stock beschädigt hat, nicht gesehen, und kann sie somit also auch nicht beschreiben. Das führt zu einer Diskussion mit diversen Hilfsangeboten, Fragen und Ideen. Einige davon möchte ich gern in diesem Beitrag aufgreifen und kommentieren.

– Ein Teilnehmer schlug vor Seniorenheime abzutelefonieren und nach nicht mehr benötigten Blindenstöcken zu fragen. Ein Blindenlangstock ist immer ein spezielles Hilfsmittel. Die Länge ist abhängig von der Körpergröße. Das ist wichtig, um beim Pendeln den nächsten Schritt absichern zu können. Stöcke gibt es in unterschiedlichen Gewichtsklassen und Fabrikaten. Jeder blinde Langstocknutzer bekommt den Stock, der am besten zu ihm passt. Dazu gehört eine Stockspitze, die es ebenfalls in unterschiedlichen Ausführungen gibt. Ebenso gibt es unterschiedliche Griffe, die unterschiedlich in der Hand lieben.
– Jemand empfahl mir einen Blindenstock für 10 Euro bei Amazon zu kaufen. Alternativ kam der Vorschlag einen Stock aus Ebay Kleinanzeigen zu kaufen. Was die Handhabung angeht, so verweise ich auf den letzten Absatz. Was die Tauglichkeit von Blindenstöcken im Bereich der 10 € betrifft, so halten sie auch nur für 10 €. Einen für mich passenden Stock kaufe ich bei der Hilfsmittelfirma meines Vertrauens.
– Eine Dame fragte, ob es nicht sinnvoller wäre einen festen Gehstock zu benutzen. Dieser wäre zu schwer, um mit ihm zu pendeln. Das muss ich aber machen, um festzustellen was direkt vor mir ist, außerdem ist er nicht weiß, und damit als Kennzeichnung im Straßenverkehr unzulässig. Es gibt Stützstöcke in Weiß. Allerdings sind sie nicht dafür vorgesehen sich wie mit einem Blindenlangstock im Straßenverkehr zu bewegen.
– Mit dem Blindenlangstock verbringe ich manchmal mehrere Stunden täglich. Daher ist es wichtig, dass er das richtige Gewicht, die richtige Spitze und den richtigen Griff hat. Von der Länge her reicht er mir bis zu den Achselhöhlen. Das ist die Länge, die es braucht, um beim Laufen den nächsten Schritt abzusichern, dabei wird mit dem Stock jeweils in einem flachen Bogen der Stock von links nach rechts und zurück gerollt. Wenn das linke Bein nach vorne geht, pendelt der Stock nach rechts und umgekehrt. Auf diese Weise bekomme ich mit ob sich der Bodenbelag ändert, sich Stufen oder Bordsteine auf meinem weg befinden, oder ob vor mir irgendein Hindernis ist.

Und hier habe ich noch ein paar weiterführende Links für Euch:
– In Nicht ohne meinen Stock beschreibe ich wie ich zum Stock gekommen bin,
– in Der Blindenstock in der Praxis geht es darum was der Stock kann und was nicht,
– in Welche Blindenstöcke gibt es geht es um Unterschiede von Blindenstöcken,
– in Der Blindenstock Stigma oder Befreiung geht es um das Hilfsmittel und die Haltung zur Kennzeichnung im Straßenverkehr.

Die oben erzählte Geschichte ist gut ausgegangen. In der Facebook gruppe wurde Geld für einen neuen Stock gesammelt. Dieses habe ich am Ende nicht gebraucht. Es gab einen Kostenträger, der mir einen neuen Stock finanziert hat, so dass ich wieder über einen Ersatzstock verfüge. Und da ich mich nicht an der Spendenbereitschaft der Geldgeber bereichern möchte, habe ich das Geld auf den Spendenpool über PayPal für die Arab. Episcopal School für blinde und sehende Kinder in Jordanien überwiesen. Mehr über diese Schule, die mir sehr am Herzen liegt, habe ich in diesem Beitrag geschrieben.

Zum Schluss habe ich noch eine Bitte: Wenn Ihr einen blinden Menschen mit Blindenlangstock seht, der auf ein Hindernis, eine Treppe oder eine Wand zuläuft, dann greift bitte nicht voreilig ein. Geht davon aus, dass dieser Mensch weiß was er oder sie tut. Und vielleicht wird das Hindernis oder die Wand einfach nur zur Orientierung gebraucht. Dem Stock tut es nicht weh, wenn er auf ein Hindernis trifft.

In diesem Sinne, lasst es Euch gut gehen.

Eure Lydia

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Auffindbarkeit und Orientierung

Während ein sehender Mensch viele Dinge mit einem Blick erfassen kann, braucht es ein paar Griffe in die Trickkiste, um sich diese blind zu erschließen. Dabei spielen Restsehen, Mobilität und die Kreativität des Einzelnen eine entscheidende Rolle.
Einen Weg erschließe ich mir dadurch, dass ich mir Merkmale suche, an denen ich mich orientieren kann. Das kann eine Einfahrt, eine Absperrung, ein Verteilerkasten oder auch ein feststehender Müllbehälter sein. Das sind markante Punkte, also Merkmale, die ihren Standort nicht verändern. Die meisten dieser Punkte befinden sich nicht in der Mitte eines Bürgersteigs, sondern eher am Wegesrand. Daher laufe ich gern dort entlang, wenn ich auf der Suche nach meinem nächsten Orientierungsmerkmal bin. Wenn ich dann in regelmäßigen Abständen mit dem Stock eine Pendelbewegung gegen eine Hauswand mache, erschrecke ich so manchen entgegenkommenden Passanten. Dabei mache ich das ebenfalls zur Orientierung. Mauerwerk klingt je nach Beschaffenheit unterschiedlich. Und manchmal brauche ich dieses Geräusch, um zwischen zwei Zäunen einen Eingang wiederzufinden. Was ich dabei überhaupt nicht brauchen kann, sind Fahrräder oder andere Kleinfahrzeuge, die jemand einfach mal so an der Hauswand oder an einem Laternenpfahl abgestellt hat. Erst recht nicht, wenn der Fahrradlenker hervorsteht. Dann ist er über der Höhe, die ich mit dem Blindenstock abdecken kann.
Das Thema Auffindbarkeit spielt auch im öffentlichen Nahverkehr eine große Rolle. Möchte ich mit dem Bus fahren, dann muss ich erst mal die Haltestelle finden. Da ich die Markierung der Halteposition nicht sehen kann, stelle ich mich möglichst an das Haltestellenschild, und hoffe, dass der Bus so hält, dass ich den Fahrer direkt nach der Buslinie fragen kann. Problematisch wird es, wenn besagtes Schild irgendwo steht, und ich das nicht weiß. Dann haben wir die Szenerie, dass der Bus hält, und ich in möglichst kurzer Zeit die vordere Tür finden muss. Die brauche ich, um den Fahrer nach der Buslinie zu fragen. Das ist besonders dann nervig, wenn auf dem Weg dorthin Fahrräder, Bäume und andere unliebsame Überraschungen direkt an der Straße stehen, die ich erst dann wahrnehme, wenn ich mit dem Stock gegen sie komme. Die Erfahrung zeigt, dass ich besonders schnell sein muss, da ich nie weiß, ob der Fahrer mich als potentiellen Fahrgast wahrgenommen hat, oder mich für eine Spaziergängerin hält. Dieser Zeitdruck erzeugt Stress. Daher suche ich mir am liebsten Wege aus, die ich kenne, und deren Hindernisse mir geläufig sind.
Kürzlich fragte ich einen Busfahrer nach der Nummer der Buslinie. Ich bekam erst mal keine Antwort, und musste meine Frage mehrfach wiederholen. Danach gab es eine Diskussion mit dem Fahrer. Dieser bestand darauf, dass ich ihm sage wohin ich will, und er dann ja oder nein sagte. Das möchte ich nicht, da ich schon schlechte Erfahrungen damit gemacht habe. Ich möchte die Buslinie oder das Endziel hören. Nur das garantiert mir, dass ich tatsächlich im richtigen Bus sitze.

Zur Auffindbarkeit gehören für mich auch die akustischen Ansagen der Haltestellen. Eine Strecke, die ich gut kenne, kann ich mit etwas mehr Konzentration selbst bewältigen. Das funktioniert jedoch nur bei exakter Kenntnis des Streckenverlaufs. Natürlich könnte man auch dem Busfahrer Bescheid sagen. Aber auch da habe ich schon die Erfahrung machen müssen, dass ich vergessen wurde. Schließlich sind das auch nur Menschen, und ich bin nicht der einzige Fahrgast, mit dem sie sich beschäftigen.

So, das waren ein paar Beispiele, die gern in den Kommentaren ergänzt werden dürfen.