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Allgemein Alltag Zu Gast auf lydiaswelt

Braucht man Mode für Blinde

Für viele geburtsblinde Menschen ist die Auseinandersetzung mit Mode nicht selbstverständlich und muss mühsam erlernt werden. Dabei stellen sich Fragen wie „Welche Hose oder Rock passt zu welchem Oberteil“ oder „Wie wirke ich mit welchem Outfit“. Ich mache das so, dass ich mir mit sehender Hilfe, zu der ich Vertrauen habe, die Sachen zusammenstellen lasse, sie mir entsprechend markiere oder einpräge. Dabei wirft die sehende Hilfe den Blick auf die Optik und ich entscheide, ob ich mich in der Kleidung wohl fühle. Kleidung, die unterschiedliche Farben hat, und die sich identisch anfühlen, kann ich mit Hilfe eines Farberkennungsgeräts auseinanderhalten.

Amy Zayed ist meine heutige Gastautorin. Sie ist 47 Jahre alt und arbeitet als freie Journalistin für alle möglichen Kulturwellen der ARD, sowie der BBC. Sie wohnt in Köln und ist seit Geburt blind.

Mode für Blinde, braucht man das?
Es ist leider nicht alltäglich, dass geburtsblinde Frauen die Möglichkeit bekommen, sich mit Mode schon früh zu beschäftigen. Oft treffe ich geburtsblinde Frauen, die irgendwann damit konfrontiert werden, dass sie ihren Stil entwickeln müssen, weil ihnen klar wird, dass sie, auch wenn sie sich selbst nicht sehen, sie trotzdem gesehen werden. Und, dass sie vielleicht auch gesehen werden möchten. Das führt sie in ein Dilemma, denn sie haben nie die Möglichkeit gehabt mit Mode zu spielen, sich selbst darin zu finden, zu begreifen, dass Mode am Ende nur ein Ausdrucksmittel für die eigene Identität ist, und dass Mode-Trends dazu da sind, sie für sich zu nutzen und zu benutzen, und nicht, um ihnen blind, wie Frau nun mal ist, zu folgen!
Ich hatte das Glück als Geburtsblinde schon sehr früh zu begreifen, wie großartig Mode sein kann, um sich selbst zu präsentieren, meine Weiblichkeit, mein Selbstbewusstsein, meine Art zu zeigen. Von daher war ich etwas verwirrt, als mich eine Designerin ansprach, ob ich ihr Tipps geben könnte für Klamotten, die extra für blinde Frauen designt werden sollen. Ich wusste wirklich nicht, was damit gemeint war. Sie erklärte mir, dass es doch zum Beispiel toll wäre, wenn man Pullis sowohl vorn wie hintenrum anziehen könnte, oder innen wie außen. Das verwirrte mich noch mehr, und Entschuldigung, es beleidigte meine Intelligenz. Ein blinder Mensch fühlt in den meisten Fällen, ob er einen Pulli links, rechts, innen oder außen rum anhat. Aber es hat mich auch zum Nachdenken angeregt. Warum hat die Designerin sich nur Gedanken über die Handhabbarkeit gemacht? Warum nur gedacht, dass wir gewisse Dinge nicht können? Warum hat sie sich nicht mit blinden Frauen über ihre Wahrnehmung von Mode auseinandergesetzt? Warum tun das nicht alle Modedesigner*Innen? Warum nicht mit Kontrasten spielen, mit fühlbaren Elementen, oder was weiß ich was uns noch so interessiert?
Mir wird klar, dass es Zeit wird, dass wir etwas tun! Wir sind genauso wichtig für die Modeindustrie wie alle Frauen! Aber dafür brauchen wir Zugang zu Mode! Wir brauchen Empowerment, um uns selbst ausdrücken zu können! Wir blinden Frauen müssen mit Trends spielen, wir müssen lernen sie zu verstehen, und sie dadurch auch zu prägen! Genau wie sehende Frauen auch. Blind Fashion sollte nicht das sein, was sich Sehende für uns ganz speziellen Menschen ganz speziell ausdenken, weil wir ja so minderbemittelt sind, sondern es sollte etwas sein, was  wir mitprägen!
Ich plädiere für Modedesigner*Innen, die an Schulen kommen, wo Blinde sind, ich plädiere für Späterblindete, die Geburtsblinden einfach erklären, was Sehende wahrnehmen, ich plädiere für Ehrlichkeit bei Freund*Innen und Verwandten, aber gleichzeitig dafür, dass sie Raum lassen, um der blinden Frau die Möglichkeit zu lassen, sich selbst zu finden.
Ihr blinden Mädels da draußen! Erlebt die Mode! Mit den Händen, dem Sehrest, falls einer da ist, mit der Nase, dem Körper, der Haut! Macht sie zu Eurem Eigentum, und hört auf, Anziehpuppen zu sein! Lasst Euch beraten, aber entscheidet selbst, und dafür müsst Ihr Euch vielleicht ein Bisschen Modeverständnis anlesen!
Andererseits wünsche ich mir, dass all die Marken-Websites da draußen uns endlich mitdenken!
Aboutyou, Zalando, Esprit! Nutzt endlich Alternativ-Text-Beschreibung auf Euren social media Kanälen, beschreibt die Klamotten auf Euren Websites! Ihr gewinnt neue Kund*Innen! Wir sind nicht unsichtbar, nur weil wir nicht sehen! Ich wünsche mir eine Zeit, in der blinde selbstbestimmte, modebewusste Frauen Bock auf Mode haben, und sich nicht beim Shoppen überfordert fühlen, weil sie gar nicht wissen, wie sie ihre eigene Identität nach Außen zeigen sollen.
Vor einigen Monaten hörte ich von einer Kampagne eines T-Shirts mit der Aufschrift „Feel me“ in Blinden und regulärer Schrift auf der Höhe der Brüste. Ich bin fast ausgerastet! Das ist im Rahmen von #Metoo absolut unpassend! Wieder hat sich ein sehender Mensch ausgedacht, dass blinde Frauen hilflos sind, man muss ihre Gefühlswelt verstehen, man muss sie „fühlen“. Und obendrein ist es eine Aufforderung uns an die Brüste zu fassen! Genau um solche Dinge zu vermeiden, wünsche ich mir von uns mehr Modebewusstsein, mehr Empowerment und damit auch mehr Selbstbestimmung!

Danke Amy, für Deinen Beitrag. Auch ich finde das Design absolut daneben. Die Idee der Brailleschrift mehr Bedeutung zu verleihen finde ich klasse. Aber muss es wirklich das Wort „Feel me“ auf Brusthöhe sein? Ich sage ganz klar „nein“ dazu. Denn ich möchte selbst bestimmen, wer mich an dieser Stelle berühren darf.

Den Befürwortern des Projekts gebe ich den Tipp mit dem T-Shirt unter der Dunkelbrille als blind gekennzeichnet eine halbe Stunde lang in einer vollen Fußgängerzone zu stehen und die Erfahrung zu machen befühlt zu werden.

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Allgemein Bildung Zu Gast auf lydiaswelt

Malen mit Braille

Heute schreibt Melis einen Gastbeitrag. Sie ist blind und besucht eine Regelschule.

Malen mit Braille

In diesem Beitrag habe ich einen Kreativtipp für alle Braillefans.
Und zwar versucht doch mal Braille Bilder herzustellen.
Das sind, wie der Name schon sagt, Bilder, die aus Punkten bestehen. Je nachdem in welcher Reihenfolge man Zeichen in Braille anordnet, entstehen unterschiedliche, fühlbare Bilder und Formen.
Aber wie stellt man diese Bilder jetzt her?
Die einzigen Sachen, die du brauchst, sind eine Punktschriftmaschine, Papier und Kenntnisse der 6Punkt-Schrift.
Eine Punktschriftmaschine ist ein Gerät, in das man ein Blatt einspannt und durch das Drücken von Tasten Buchstaben ins Papier gestanzt werden.
Jetzt kann man natürlich selber herumexperimentieren, welche Buchstaben ein gutes Bild ergeben.
Wenn man jedoch, genau wie ich, dafür keine Geduld hat, greift man einfach aufs Internet zurück.
Auf der Seite Einfach machbar Braille Bilder finden sich viele Anleitungen.
Ob Tiere, Gegenstände oder Pflanzen, hier ist fast alles dabei.
Wenn ihr zum Üben ein eher einfaches Bild nehmen möchtet, empfehle ich das Herz.
Es besteht aus wenigen Zeichen und ist deshalb schnell gebraillet.
Eine besonders hübsche Idee ist es auf eine Grußkarte ein Bild zu braillen.
Geburtstagsgrüße mit einer Braille-Torte sind doch gleich was ganz Besonderes.

Ich hoffe, dass ich euch auf das Malen mit Braille neugierig machen konnte und ihr es mal ausprobiert!
Viel Spaß dabei!

Danke Dir, liebe Melis, für diesen Tipp, den ich gern einmal ausprobieren werde.

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Allgemein Bildung unterwegs Zu Gast auf lydiaswelt

Blindenstöcke für Togo 3 Jahre später

Spendenprojekt für das Blindenzentrum in Kpalimé (Togo)

Rund drei Jahre nach ihrer Rückkehr von einem einjährigen Freiwilligendienst in dem westafrikanischen Land Togo ging es für Jasmin erneut dorthin. Diesmal in Begleitung ihres Mannes Erdin (aka. Mr. Blindlife) und einem Koffer voller Blindenlangstöcke und Lupen.
Jasmin ist sehbeeinträchtigt und sieht mit Brille auf dem besseren Auge mit Brille noch 8%. Während ihres Freiwilligendienstes interessierte sie sich daher auch dafür, wie blinde und sehbeeinträchtigte Menschen in Togo leben und so besuchte sie neben dem „Centre des Aveugles de Kpalimé“ auch eine weiterführende Schule, an denen einige blinde und sehbeeinträchtigte Schüler inklusiv unterrichtet wurden und deren Wohnung, in der die Schüler als Wohngemeinschaft zusammenlebten. Bereits bei der ersten Begegnung mit Ayala, einem der Schüler, fiel Jasmin auf, dass dessen Langstock verbogen war, die einzelnen Elemente nur noch von einem losen Gummiband zusammengehalten wurden und die Spitze komplett fehlte. Auch bei den anderen Schülern war es nicht besser, sodass sie stets von den besser sehenden Mitbewohnern geführt wurden. Auf Nachfrage bei dem Blindenzentrum erfuhr Jasmin, dass es in der Region keine Langstöcke in entsprechender Qualität zu kaufen gäbe.
Daraufhin organisierten Lydia und Jasmin das erste Spendenprojekt, in dessen Rahmen 38 Langstöcke samt Ersatzteilen an die ehemaligen Schüler:innen des Zentrums übergeben werden konnten.
Vor ihrer Reise im Herbst 2022 fragte Jasmin bei dem amerikanischen Ehepaar, welches das Zentrum noch immer leitete an, ob es immer noch Bedarf an Langstöcken, Lupen o.ä. ähnlichen habe. Das Ehepaar erwiderte, dass Langstöcke, Lupen und auch ein neuer Brailledrucker dringend benötigt würden.
Erdin und Jasmin starteten daraufhin erneut ein Spendenprojekt und erhielten von ihrer Community insgesamt 1530,77€ an Spenden. Die, nach dem Abzug der Gebühr von Paypal, verbliebenen 1467,17€ wurden in Lupen, sowie Langstöcke investiert, da ein transportierbarer Brailledrucker das Budget deutlich überstiegen hätte.
Für 15 Lupen von Eschenbach in verschiedenen Stärken wurden 572,46 € ausgegeben, die verbleibenden 894,71€ wurden genutzt um 33 Langstöcke für einen Preis von insgesamt 896 € zu kaufen.
Hinzu kamen sechs Langstöcke und eine Lupe von der Community und und als Sachspenden.
Am 17. September ging unser Flug nach Togo. Für Jasmin eine lang ersehnte Rückkehr, für Erdin die erste Reise auf den afrikanischen Kontinent. Nach einem Tag der Eingewöhnung und Orientierung in Kpalimé, einer Großstadt im Süden Togos, ging es dann vollbeladen auf einem Motorrad-Taxi zum Blindenzentrum. Es waren noch Schulferien, sodass lediglich die Lehrer:innen, welche sich auf den Unterricht vorbereiteten, anwesend waren. Die 16 Lupen und 39 Langstöcke wurden von ihnen entgegengenommen und mit einzeln Lehrer:innen noch einmal der Umgang mit einer Kugelspitze, sowie dessen Auswechseln geübt, damit diese es den Schüler:innen entsprechend beibringen können. Auch einzelne Lupen wurden ausgepackt und getestet, sodass sie abschätzen konnten, welche Lupe von welchen Schüler:innen wahrscheinlich am besten nutzen wird.
Erdin drehte zudem ein Video für seinen YouTube-Kanal, um mit dem Einverständnis aller Anwesenden seiner Community zu zeigen, dass die Spenden tatsächlich angekommen sind.
Bei einer Führung über die gepflegten Anlagen wurde uns auch ein Klassenraum gezeigt, in dem lauter taktile Modelle mit Braille- und Schwarzschriftbeschriftung zu finden waren. Diese hatte ein Lehrer selbst gebaut um seinen Unterricht für die Schüler:innen „begreifbarer“ zu gestalten.

Vielen herzlichen Dank an alle, die unser Spendenprojekt unterstützt und uns bei dieser Reise begleitet haben. Und einen riesigen Dank an Lydia für die unglaubliche Unterstützung bei der ersten Spendenaktion. Diese könnt Ihr unter Blindenstöcke für Togo nachlesen.

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Suche nach einer barrierearmen Lampe

Nina Schweppe lernte ich während eines Telefonvortrags bei der Blindenselbsthilfe kennen. Heute ist sie meine Gastautorin.

Nina Schweppe ist zertifizierte Ernährungs- und Schlafberaterin. Mit ihrem eigenen Business unterstützt sie Menschen dabei, im Einklang mit ihren persönlichen biologischen Rhythmen einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu pflegen und dadurch einen guten erholsamen Schlaf und eine schier unerschöpfliche Energie zu haben, um mit Leichtigkeit und Freude den Alltag zu bewältigen.
In Einzelcoachings, Kursen und Vorträgen vermittelt Sie das nötige Wissen und zeigt an praktischen Beispielen auf, wie sich das Gelernte leicht in den Alltag einbinden lässt.
Weiter setzt sie sich dafür ein, dass digitale Gesundheitsanwendungen und Medizingeräte barriereärmer und somit zugänglicher für Menschen mit Behinderungen werden.

Nicht einmal Licht bekommt man barrierefrei ☹️😒😞

„Oh, ich kann Sie plötzlich nicht mehr richtig sehen!“ bemerkte ein Geschäftspartner in einer Videokonferenz.

Ok!

Also erst einmal mit dem Computerfachmann die Lage checken. Am Laptop ist alles ok und alle Energiesparpläne sind deaktiviert. Daran kann es nicht liegen.

Also eine Ringleuchte!

Der Besuch im hiesigen Elektromarkt glich einer Schnitzeljagd.

Was brauche ich, wenn ich als blinde Geschäftsfrau Licht für meinen Arbeitsplatz brauche?

Ich brauche zuverlässig ausreichend Licht. – Ohne Dimmer, ohne Farbveränderung, ohne Intelligenz. Einfach nur Licht an oder aus.

Warum?

Weil mir die Sichtkontrolle fehlt. Ich muss mich auf die Lampe verlassen können, dass sie einfach tut, was eine Lampe tut. Nicht kaffeekochen oder telefonieren, sondern einfach nur meinen Arbeitsplatz beleuchten.

Verrückt!

Die Lampen haben alle ein Touchdisplay. So können alle einfach durch das Antippen … nur ich nicht. Denn weil ich die Tasten nicht sehen kann, kann ich auch nicht tippen, um das Licht einzuschalten.

„Was sie suchen gibt es nicht.“, sagte der Verkäufer, und wollte mich in den nächstgelegenen Baumarkt schicken. Dieser aber liegt im Industriegebiet und ist für mich als Blinde, ich kann weder Auto noch Rad fahren, nicht erreichbar.

Muss ich als blinde Geschäftsfrau mich wirklich mit einer schrammeligen Lampe aus dem Baumarkt zufrieden geben in meinem professionell ausgestatteten Büro?

Nein! muss ich nicht. Mein netter Verkäufer wurde kreativ und fand eine einfache Schreibtischleuchte. Diese kann nichts, ist dafür aber teurer als die preisgünstigsten Ringleuchten.

Warum poste ich dieses Erlebnis?

Nicht, weil ich bemitleidet werden möchte. Auch nicht, weil die Welt ja ohnehin schon so schrecklich ist, dass ich noch etwas Nerviges dazu beitragen muss.
Ich poste dies, weil ich Sie, liebe Anbieter da draußen darauf aufmerksam machen möchte, dass es immer wieder Verbraucher geben wird, die aus verschiedensten Gründen einfache Geräte mit mechanisch, haptisch erfahrbaren Schaltern benötigen.
Meine Schreibtischlampe ist nur ein Beispiel.

Viel schlimmer ist für mich, dass ich meinen blinden Kunden, die dringend auf Lichttherapielampen angewiesen sind, auch bald vermutlich nichts mehr empfehlen kann, weil genau diese Entwicklung sich auch dort vollzieht.
Wir brauchen Produkte, die uns ermöglichen, einfach therapeutisches Licht zu haben, oder es einfach auszuschalten.

Bitte haben Sie alle immer im Hinterkopf, dass es immer mal Menschen gibt, die bestimmte Dinge nicht können.

Ich hätte nie gedacht, dass ich bzgl. einer simplen Leuchte um Barrierefreiheit und Teilhabe würde bitten müssen.

Was denken Sie, ist es nicht manchmal auch für Menschen ohne eine #Barrierefreiheit #einfach Licht #Zugänglichkeit #leichte Bedienung #mechanische Schalter #Inklusion Behinderung einfacher, ein Produkt ohne Schnick und Schnack zur Verfügung zu haben?

Vielen Dank an Nina für ihren Erfahrungsbericht. Wer sie näher kennenlernen möchte, dem lege ich ihre Homepage ans Herz.

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Allgemein Alltag unterwegs Zu Gast auf lydiaswelt

Challenge Baustelle

Meine Gastautorin Andrea Eberl ist 58 Jahre alt und von Geburt an blind. Ihr Begleiter ist der 3 jährige Blindenführhund Frodo, ein schwarzer Labrador. Andrea ist gemeinsam mit sehenden Menschen Autorin von Audiodeskriptionen (Filmbeschreibungen für Blinde). In ihrer Freizeit schreibt sie Artikel für verschiedene Blogs wie z.B. Kobinet e.V.. Andrea reist gerne. Am Liebsten schläft sie in ihrem Zelt unter freiem Himmel. Seit 2020 betreibt sie einen Podcast mit dem Titel „Blind auf Reisen“, in dem es hauptsächlich um ihre Reisen nach Griechenland geht, aber auch der Besuch anderer Orte findet darin seinen Platz.

Andrea hat viele Jahre Musik gemacht. Hier geht es zu ihrer Seite.

Challenge Baustelle

Mein Blindenführhund Frodo und ich erwachen nebeneinander in meinem großen Bett. Wir kuscheln ein bisschen, und dann klettern wir die Treppe vom Hochbett hinunter. Es ist 10.15 Uhr. Ich ziehe mich an, nehme den Blindenführhund ins Geschirr, und wir gehen los. Um 12.30 Uhr muss ich im Fitnesscenter sein. Das schaffen wir locker, denke ich.
Wir gehen die Rheydter Straße entlang und überqueren den Siegesplatz. Links von uns ist ein Bauzaun, der signalisiert, dass wir nur einen schmalen Bordstein rechts davon zur Verfügung haben. Der Platz der Deutschen Einheit wird seit einigen Monaten umgebaut. Daran haben wir uns gewöhnt.
Heute finden wir eine andere Situation vor. Der schmale Bordstein, über den wir bis gestern Abend noch gehen konnten, wird aufgerissen. Es ist laut, und mir ist klar, ich komme nicht wie gewohnt weiter. Vor uns taucht ein Bauarbeiter auf. „Hier können sie nicht weiter gehen“, gibt er mir zu verstehen. „Wie komme ich denn weiter? Ich möchte an die Erft.“, antworte ich. „Sie müssen hier rüber und dann da…“ Ich möchte irgendwie an der Baustelle vorbei und die Straße überqueren, um zum Kreisverkehr zu kommen, davon ausgehend, dass im Moment an der Stelle kein Auto fahren darf. Der Hund und ich möchten nach rechts ausweichen und auch dem Lärm entfliehen. „Hier können sie nicht rüber. Da laufen sie in den Verkehr hinein“, sagt der Mann. Sie müssen da und dann rechts“ „So können sie mir das nicht erklären“, antworte ich. „Bitte gehen sie vor, und der Hund geht nach.“ Der Mann folgt meinen Anweisungen und geleitet uns über die Straße. Dafür bin ich ihm dankbar. Wir kommen aber woanders an als üblich. „Wo sind wir jetzt?“ frage ich, als wir den Bordstein erreichen. Der Mann nimmt meinen Taststock in der Mitte und bewegt ihn auf ein paar Noppen. „Spüren sie die Noppen?“ fragt er. „Ja“, antworte ich. „Deshalb weiß ich aber trotzdem nicht, wo ich bin.“ „Ich will ihnen nur helfen“, sagt der Mann, von meinem Tonfall irritiert. Er versteht nicht, dass ich gestresst bin. Er nimmt den Tonfall persönlich und geht. Er hat mir ja geholfen und sein Bestes gegeben. Er versteht das Problem nicht. Er hat den Hund und mich doch in Sicherheit gebracht.
Der hilfsbereite Mann hat uns irgendwo abgestellt, und nun muss ich herausfinden, wo wir sind. Ich nehme mein iPhone zur Hand, drücke den Home-Button und sage: „Lazarillo öffnen!“ Lazarillo heißt eine, der für Blinde geeigneten, Apps, über die ich mich orientieren möchte. Unter meinen Favoriten befindet sich der Eingang zum Park in der Erkensstraße 5. Ich starte die Verfolgung. „Richtung Nordosten“, sagt die Stimme der Navigationsapp. Das hilft mir nicht weiter. Ich stehe irgendwo und weiß nicht, wo Nordosten ist. Ich kann kein Licht sehen, also kann ich mich auch nicht an der Sonne orientieren. Ein Mann kommt auf uns zu und fragt, ob er mir helfen kann. „Ja bitte“, antworte ich. „Wo sind wir?“ „Hier ist die Arztpraxis Doktor…“ Den Namen hab ich inzwischen vergessen. „Wo möchten sie in?“ „Ich möchte an die Erft bei der Erkensstraße…“ Der Mann hat keine Orientierung über die Straßennamen. Er braucht sie nicht. Er orientiert sich über Geschäfte, Arztpraxen, öffentliche Gebäude und ähnliche optische Merkmale. Das ist verständlich, aber ich kann nicht sehen, welche Arztpraxis und welches Geschäft sein Orientierungspunkt ist, und wenn ich mit dem Navi unterwegs bin, lasse ich mir nicht jedes Gebäude ansagen, weil es mich überfordern würde, ständig die Sprachausgabe im Ohr zu haben und mich gleichzeitig auf den Hund und den Weg konzentrieren zu müssen. Deshalb hilft mir die Orientierungsweise sehender Menschen nicht weiter. „Kann ich ihnen helfen?“ fragt er nochmal. „Nein“, antworte ich. „Ich muss selbst herausfinden, wo ich bin.“ Der Mann geht.
Ich bewege mich weiter in eine der beiden möglichen Richtungen. Schließlich bitte ich den nächsten Mann, der gerade in ein Gespräch verwickelt war, mir zu helfen. Ich habe Glück. Er arbeitet seit Jahren bei der Stadt und kann mit meiner Ansage: „Ich möchte beim alten Finanzamt vorbei in der Erkensstraße an die Erft!“ etwas anfangen. Der Mann geleitet uns auf die richtige Straßenseite, erklärt mir, wo wir sind und wie ich zu dem von mir gesuchten Eingang zum Stadtpark finde. Ich bin erleichtert.
Endlich im Park angekommen, kann mein Hund sich lösen. Der Arme hat es schon sehr eilig gehabt. Während des kurzen Spaziergangs überlege ich, wie wir stressfrei zurück nachhause kommen: Wenn wir am griechischen Restaurant vorbei die Straße überqueren und dann durch die Bahnstraße am Fitnesscenter vorbei gehen… Aber geht das überhaupt, oder ist dort auch noch alles aufgerissen? Wir landen erfolgreich im Fitnesscenter, und ich frage dort nach, ob die Strecke von der Bahnstraße über die Dechant-Schütz-Straße, eine andere Querstraße, die direkt zu unserem Haus führt, frei begehbar ist. Glücklicherweise ist sie das seit kurzem. Zu meinem Termin im Fitnesscenter komme ich zu spät, weil es zuvor einiges an Kommunikation gebraucht hat, bis ich meinen Weg weiter gehen konnte.
Seit März oder April 2021 wird in meiner unmittelbaren Nähe gebaut. Als ich noch mit meiner alten Blindenführhündin Enny unterwegs war, wurde die Rheydter Straße, das ist die Hauptstraße, in der ich wohne, neu gemacht. Dieser Umbau hat etwa drei Monate gedauert. Ganz abgesehen vom Lärm vor der eigenen Haustür war es für die Hündin und mich schwierig, uns zurecht zu finden, weil es täglich herausfordernde Veränderungen gab. Die Rheydter Straße ist jetzt, dank der Umbauten, barrierefrei.
Seit April dieses Jahres, seit mein neuer Blindenführhund Frodo bei mir ist, wird und wurde in der Bahnstraße, das ist die Parallelstraße zur Rheydter Straße, und über die Dechant-Schütz-Straße der Weg zum Bahnhof neu gemacht. Später kam dann auch noch die Baustelle auf dem Platz der deutschen Einheit dazu, die uns heute Morgen vor das beschriebene plötzliche Problem gestellt hat. Das bedeutet, dass wir z.B. unseren Weg zum Park in mehreren Varianten kennengelernt und eingeübt haben. Der Blindenführhund hat ein gutes fotografisches Gedächtnis und eine schnelle Auffassungsgabe, wodurch er sich neue Wege schnell einprägen kann. Für blinde Menschen, die ohne Hund, mit dem Langstock, unterwegs sind, stellen drei Baustellen gleichzeitig ein noch größeres Problem dar als für mich, die ich mit meinem tollen Helfer auf vier Pfoten unterwegs bin.
Ich finde es notwendig, dass künftig Menschen, die auf dem Bau arbeiten, darin geschult werden, wie man uns blinden Menschen helfen kann, ohne uns, nachdem man uns in Sicherheit gebracht hat, an einer für uns unbekannten Stelle abzustellen. Dafür muss man sich ein bisschen Zeit nehmen. Z.B. wäre es eine Möglichkeit, dass der blinde Straßenpassant den Standort, zu dem er möchte, mit dem Mann am Bau über sein Smartphone teilt. Wenn er gut beschreiben kann, könnte er den blinden Straßenpassanten verbal in die richtige Richtung navigieren oder ihn an eine Stelle führen, wo er sich wieder auskennt. Vielleicht gäbe es auch die Möglichkeit, eine barrierefreie App zu entwickeln, auf die Bauarbeiter und Straßenpassanten gleichzeitig zugreifen können, um Situationen zu vermeiden, in denen der, der helfen will, nicht adäquat helfen kann und sich deshalb unzufrieden zurück gelassen fühlt, und der blinde Mensch seine Orientierung verliert. So könnten die Menschen auch lernen, wie man einen blinden Menschen führt und wie man Hilfe anbieten soll.

Es ist ungeheuer wichtig, dass der helfende Mensch weiß, was der Mensch mit Behinderung braucht. Da ist noch sehr viel Aufklärung notwendig.

Danke Dir, Andrea, für Deinen Gastbeitrag.