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Allgemein Alltag Zu Gast auf lydiaswelt

Braucht man Mode für Blinde

Für viele geburtsblinde Menschen ist die Auseinandersetzung mit Mode nicht selbstverständlich und muss mühsam erlernt werden. Dabei stellen sich Fragen wie „Welche Hose oder Rock passt zu welchem Oberteil“ oder „Wie wirke ich mit welchem Outfit“. Ich mache das so, dass ich mir mit sehender Hilfe, zu der ich Vertrauen habe, die Sachen zusammenstellen lasse, sie mir entsprechend markiere oder einpräge. Dabei wirft die sehende Hilfe den Blick auf die Optik und ich entscheide, ob ich mich in der Kleidung wohl fühle. Kleidung, die unterschiedliche Farben hat, und die sich identisch anfühlen, kann ich mit Hilfe eines Farberkennungsgeräts auseinanderhalten.

Amy Zayed ist meine heutige Gastautorin. Sie ist 47 Jahre alt und arbeitet als freie Journalistin für alle möglichen Kulturwellen der ARD, sowie der BBC. Sie wohnt in Köln und ist seit Geburt blind.

Mode für Blinde, braucht man das?
Es ist leider nicht alltäglich, dass geburtsblinde Frauen die Möglichkeit bekommen, sich mit Mode schon früh zu beschäftigen. Oft treffe ich geburtsblinde Frauen, die irgendwann damit konfrontiert werden, dass sie ihren Stil entwickeln müssen, weil ihnen klar wird, dass sie, auch wenn sie sich selbst nicht sehen, sie trotzdem gesehen werden. Und, dass sie vielleicht auch gesehen werden möchten. Das führt sie in ein Dilemma, denn sie haben nie die Möglichkeit gehabt mit Mode zu spielen, sich selbst darin zu finden, zu begreifen, dass Mode am Ende nur ein Ausdrucksmittel für die eigene Identität ist, und dass Mode-Trends dazu da sind, sie für sich zu nutzen und zu benutzen, und nicht, um ihnen blind, wie Frau nun mal ist, zu folgen!
Ich hatte das Glück als Geburtsblinde schon sehr früh zu begreifen, wie großartig Mode sein kann, um sich selbst zu präsentieren, meine Weiblichkeit, mein Selbstbewusstsein, meine Art zu zeigen. Von daher war ich etwas verwirrt, als mich eine Designerin ansprach, ob ich ihr Tipps geben könnte für Klamotten, die extra für blinde Frauen designt werden sollen. Ich wusste wirklich nicht, was damit gemeint war. Sie erklärte mir, dass es doch zum Beispiel toll wäre, wenn man Pullis sowohl vorn wie hintenrum anziehen könnte, oder innen wie außen. Das verwirrte mich noch mehr, und Entschuldigung, es beleidigte meine Intelligenz. Ein blinder Mensch fühlt in den meisten Fällen, ob er einen Pulli links, rechts, innen oder außen rum anhat. Aber es hat mich auch zum Nachdenken angeregt. Warum hat die Designerin sich nur Gedanken über die Handhabbarkeit gemacht? Warum nur gedacht, dass wir gewisse Dinge nicht können? Warum hat sie sich nicht mit blinden Frauen über ihre Wahrnehmung von Mode auseinandergesetzt? Warum tun das nicht alle Modedesigner*Innen? Warum nicht mit Kontrasten spielen, mit fühlbaren Elementen, oder was weiß ich was uns noch so interessiert?
Mir wird klar, dass es Zeit wird, dass wir etwas tun! Wir sind genauso wichtig für die Modeindustrie wie alle Frauen! Aber dafür brauchen wir Zugang zu Mode! Wir brauchen Empowerment, um uns selbst ausdrücken zu können! Wir blinden Frauen müssen mit Trends spielen, wir müssen lernen sie zu verstehen, und sie dadurch auch zu prägen! Genau wie sehende Frauen auch. Blind Fashion sollte nicht das sein, was sich Sehende für uns ganz speziellen Menschen ganz speziell ausdenken, weil wir ja so minderbemittelt sind, sondern es sollte etwas sein, was  wir mitprägen!
Ich plädiere für Modedesigner*Innen, die an Schulen kommen, wo Blinde sind, ich plädiere für Späterblindete, die Geburtsblinden einfach erklären, was Sehende wahrnehmen, ich plädiere für Ehrlichkeit bei Freund*Innen und Verwandten, aber gleichzeitig dafür, dass sie Raum lassen, um der blinden Frau die Möglichkeit zu lassen, sich selbst zu finden.
Ihr blinden Mädels da draußen! Erlebt die Mode! Mit den Händen, dem Sehrest, falls einer da ist, mit der Nase, dem Körper, der Haut! Macht sie zu Eurem Eigentum, und hört auf, Anziehpuppen zu sein! Lasst Euch beraten, aber entscheidet selbst, und dafür müsst Ihr Euch vielleicht ein Bisschen Modeverständnis anlesen!
Andererseits wünsche ich mir, dass all die Marken-Websites da draußen uns endlich mitdenken!
Aboutyou, Zalando, Esprit! Nutzt endlich Alternativ-Text-Beschreibung auf Euren social media Kanälen, beschreibt die Klamotten auf Euren Websites! Ihr gewinnt neue Kund*Innen! Wir sind nicht unsichtbar, nur weil wir nicht sehen! Ich wünsche mir eine Zeit, in der blinde selbstbestimmte, modebewusste Frauen Bock auf Mode haben, und sich nicht beim Shoppen überfordert fühlen, weil sie gar nicht wissen, wie sie ihre eigene Identität nach Außen zeigen sollen.
Vor einigen Monaten hörte ich von einer Kampagne eines T-Shirts mit der Aufschrift „Feel me“ in Blinden und regulärer Schrift auf der Höhe der Brüste. Ich bin fast ausgerastet! Das ist im Rahmen von #Metoo absolut unpassend! Wieder hat sich ein sehender Mensch ausgedacht, dass blinde Frauen hilflos sind, man muss ihre Gefühlswelt verstehen, man muss sie „fühlen“. Und obendrein ist es eine Aufforderung uns an die Brüste zu fassen! Genau um solche Dinge zu vermeiden, wünsche ich mir von uns mehr Modebewusstsein, mehr Empowerment und damit auch mehr Selbstbestimmung!

Danke Amy, für Deinen Beitrag. Auch ich finde das Design absolut daneben. Die Idee der Brailleschrift mehr Bedeutung zu verleihen finde ich klasse. Aber muss es wirklich das Wort „Feel me“ auf Brusthöhe sein? Ich sage ganz klar „nein“ dazu. Denn ich möchte selbst bestimmen, wer mich an dieser Stelle berühren darf.

Den Befürwortern des Projekts gebe ich den Tipp mit dem T-Shirt unter der Dunkelbrille als blind gekennzeichnet eine halbe Stunde lang in einer vollen Fußgängerzone zu stehen und die Erfahrung zu machen befühlt zu werden.

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Allgemein Alltag unterwegs

Fragen und Antworten zum Blindenstock

Es ist Samstagmittag, als ich an der Station Frankfurt Süd in die U-Bahn steigen will. Mit dem Stock taste ich nach dem Eingang der Bahn und ob jemand vor mir ist. Eine Frau drängelt sich an mir vorbei, und tritt so auf den Stock, dass er mir aus der Hand gerissen wird, und an einer Stelle komplett durchgebrochen ist. Als ich die Dame darauf aufmerksam mache, erklärt sie mir, dass ich ihr den Stock ja zwischen die Beine geschoben habe. Mehr interessiert sie nicht. Ebenso wie die anderen Fahrgäste. Zwei Stationen weiter merke ich, dass ich so nicht weiterkomme und dass es ratsamer ist wie geplant hier umzusteigen. Ich bin ortskundig und es gibt hier Leitstreifen, die mir in meinem geschockten Zustand weiterhelfen können. Ich steige in meine geplante Bahn um, und steuere einen Laden an, wo ich bereits Stammkundin bin. Der Mitarbeiter klebt mir den Stock so mit Klebeband zusammen, dass ich mit dem Stock nach Hause kommen kann.
Zuhause mache ich mir erst mal in einer regionalen Gruppe auf Facebook Frankfurts Luft, und suche nach Zeugen. Denn ich habe die Dame, die mir meinen Stock beschädigt hat, nicht gesehen, und kann sie somit also auch nicht beschreiben. Das führt zu einer Diskussion mit diversen Hilfsangeboten, Fragen und Ideen. Einige davon möchte ich gern in diesem Beitrag aufgreifen und kommentieren.

– Ein Teilnehmer schlug vor Seniorenheime abzutelefonieren und nach nicht mehr benötigten Blindenstöcken zu fragen. Ein Blindenlangstock ist immer ein spezielles Hilfsmittel. Die Länge ist abhängig von der Körpergröße. Das ist wichtig, um beim Pendeln den nächsten Schritt absichern zu können. Stöcke gibt es in unterschiedlichen Gewichtsklassen und Fabrikaten. Jeder blinde Langstocknutzer bekommt den Stock, der am besten zu ihm passt. Dazu gehört eine Stockspitze, die es ebenfalls in unterschiedlichen Ausführungen gibt. Ebenso gibt es unterschiedliche Griffe, die unterschiedlich in der Hand lieben.
– Jemand empfahl mir einen Blindenstock für 10 Euro bei Amazon zu kaufen. Alternativ kam der Vorschlag einen Stock aus Ebay Kleinanzeigen zu kaufen. Was die Handhabung angeht, so verweise ich auf den letzten Absatz. Was die Tauglichkeit von Blindenstöcken im Bereich der 10 € betrifft, so halten sie auch nur für 10 €. Einen für mich passenden Stock kaufe ich bei der Hilfsmittelfirma meines Vertrauens.
– Eine Dame fragte, ob es nicht sinnvoller wäre einen festen Gehstock zu benutzen. Dieser wäre zu schwer, um mit ihm zu pendeln. Das muss ich aber machen, um festzustellen was direkt vor mir ist, außerdem ist er nicht weiß, und damit als Kennzeichnung im Straßenverkehr unzulässig. Es gibt Stützstöcke in Weiß. Allerdings sind sie nicht dafür vorgesehen sich wie mit einem Blindenlangstock im Straßenverkehr zu bewegen.
– Mit dem Blindenlangstock verbringe ich manchmal mehrere Stunden täglich. Daher ist es wichtig, dass er das richtige Gewicht, die richtige Spitze und den richtigen Griff hat. Von der Länge her reicht er mir bis zu den Achselhöhlen. Das ist die Länge, die es braucht, um beim Laufen den nächsten Schritt abzusichern, dabei wird mit dem Stock jeweils in einem flachen Bogen der Stock von links nach rechts und zurück gerollt. Wenn das linke Bein nach vorne geht, pendelt der Stock nach rechts und umgekehrt. Auf diese Weise bekomme ich mit ob sich der Bodenbelag ändert, sich Stufen oder Bordsteine auf meinem weg befinden, oder ob vor mir irgendein Hindernis ist.

Und hier habe ich noch ein paar weiterführende Links für Euch:
– In Nicht ohne meinen Stock beschreibe ich wie ich zum Stock gekommen bin,
– in Der Blindenstock in der Praxis geht es darum was der Stock kann und was nicht,
– in Welche Blindenstöcke gibt es geht es um Unterschiede von Blindenstöcken,
– in Der Blindenstock Stigma oder Befreiung geht es um das Hilfsmittel und die Haltung zur Kennzeichnung im Straßenverkehr.

Die oben erzählte Geschichte ist gut ausgegangen. In der Facebook gruppe wurde Geld für einen neuen Stock gesammelt. Dieses habe ich am Ende nicht gebraucht. Es gab einen Kostenträger, der mir einen neuen Stock finanziert hat, so dass ich wieder über einen Ersatzstock verfüge. Und da ich mich nicht an der Spendenbereitschaft der Geldgeber bereichern möchte, habe ich das Geld auf den Spendenpool über PayPal für die Arab. Episcopal School für blinde und sehende Kinder in Jordanien überwiesen. Mehr über diese Schule, die mir sehr am Herzen liegt, habe ich in diesem Beitrag geschrieben.

Zum Schluss habe ich noch eine Bitte: Wenn Ihr einen blinden Menschen mit Blindenlangstock seht, der auf ein Hindernis, eine Treppe oder eine Wand zuläuft, dann greift bitte nicht voreilig ein. Geht davon aus, dass dieser Mensch weiß was er oder sie tut. Und vielleicht wird das Hindernis oder die Wand einfach nur zur Orientierung gebraucht. Dem Stock tut es nicht weh, wenn er auf ein Hindernis trifft.

In diesem Sinne, lasst es Euch gut gehen.

Eure Lydia

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Allgemein Alltag

Ich möchte selbst einkaufen gehen

Das Thema Einkaufen mit einer Sehbehinderung beschäftigt mich seit den ersten Beschränkungen und Abstandsregelungen. In meinem Beitrag blind einkaufen und Corona hatte ich bereits über die Herausforderungen und Probleme geschrieben, die unseren Personenkreis betreffen. Heute möchte ich über ein Erlebnis schreiben, welches ich als Highlight der letzten Monate sehe.
Nach den vielen Einkaufslisten, die ich in den letzten Monaten erstellt hatte, und bei denen ich stets die Hälfte vergessen hatte, erklärte sich ein Freund dazu bereit mich in den Supermarkt zu begleiten. Ein Mensch, der keine Angst davor hatte sich einer Ansteckung durch Corona auszusetzen, indem er mich in seinem Auto mitfahren ließ und der kein Problem damit hatte, dass ich mich an seinem Arm festhielt. Endlich einmal unbeschwert durch den Supermarkt laufen können, sich von Angeboten inspirieren lassen und sich im Kühlregal austoben können. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Natürlich gab es immer wieder Angebote von sehenden Mitmenschen für mich einzukaufen. Aber das war und ist für mich immer nur die zweite Wahl. Selbst einkaufen gehen bedeutet für mich eine Mischung aus Selbstbestimmung und Lebensqualität. Und ich war noch nie gut im Schreiben von Einkaufszetteln. Ich bin eher jemand, der sich bestenfalls eine Gedächtnisstütze macht, aber dem im Supermarkt einfällt was er braucht.
Der Tag kam, und ich freute mich riesig darauf. Und um nichts zu vergessen, habe ich doch ein paar Dinge aufgeschrieben, die ich nicht vergessen durfte. Darunter war keines der heiß begehrten Produkte wie Toilettenpapier, Hefe oder Haferflocken. Diese Liste schickte ich meinem Begleiter, damit er eine Vorstellung davon hatte was ich haben wollte.
Wir waren in zwei unterschiedlichen Supermärkten, und ca. 2 Stunden gemeinsam unterwegs. Es tat richtig gut. Erst recht, da mein Begleiter mir stets das Gefühl vermittelt hat, dass wir alle Zeit der Welt hatten. Neben seinem eigenen Einkauf stapelten sich 5 volle Einkaufstüten im Auto. Dabei waren auch viele Dinge, die etwas länger haltbar waren. Denn wer weiß wann ich wieder Gelegenheit haben würde mit einer sehenden Begleitung durch einen Supermarkt zu laufen.
Was hält mich vom eigenständigen Gang in den Supermarkt ab? Da sind verschiedene Dinge. Fangen wir mal mit der vorgeschriebenen Mitnahme eines Einkaufswagens an, der den Abstand sicherstellen soll. Das funktioniert bei mir nicht, da ich den Einkaufswagen hinter mir herziehen muss. Wenn ich ihn schiebe, kann ich nicht mit dem Blindenstock kontrollieren, ob sich etwas vor uns befindet. Weiter geht es mit der Auswahl der Produkte. Ich muss alles anfassen, um es zu erkennen. Für mich kein Problem. Ich könnte mir Hygienetücher oder Desinfektionsspray mitnehmen. Dennoch möchte ich das anderen Kunden nicht zumuten. Erst recht nicht in der gegenwärtig angespannten Stimmung in vielen Märkten. Ein weiteres Problem sind die Schlangen an den Kassen. Die Markierungen, die die Abstände zwischen den Kunden anzeigen, sind nur optisch gekennzeichnet, und daher mit dem Blindenstock nicht fühlbar. Damit wird auch das Schlange stehen für mich zur Odyssee und Stressfaktor. Ich habe nur dann eine Chance, wenn mir jemand die entsprechenden Hinweise gibt.

Zum Schluss noch eine Bitte an sehende Leser. Seht Ihr einen blinden Menschen vor einem Geschäft, einer Kasse oder sonst wo im Schlangengeschehen, dann fragt ihn, ob er Hilfe braucht, und gebt ihm einen Hinweis wo er am besten steht, und wann er in welche Richtung weitergehen sollte. Das nimmt vielen die Verunsicherung. Erst recht, da viele Menschen ganz still werden, wenn sich ein blinder Mensch nähert. In redet weiter, wenn ich komme habe ich dieses Phänomen und dessen Auswirkungen beschrieben.

Und jetzt wünsche ich mir einen guten Meinungsaustausch in den Kommentaren.

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Allgemein Alltag unterwegs

Hilfe gern – doch mit Verstand

Frankfurt Main, Südbahnhof. Ich steige aus dem Bus aus und orientiere mich. Dann laufe ich auf die Rolltreppe in Richtung U-Bahn zu, deren Geräusch ich hören kann. Mit dem Blindenstock kontrolliere ich, ob die tatsächlich nach unten fährt, und stelle einen Fuß auf die Treppe. Bevor ich den zweiten Fuß nachziehen kann, werde ich über das rechte Treppengeländer hinweg mit einem festen Griff am rechten Oberarm festgehalten. Autsch, das tut erst mal richtig weh. Und so schreie ich erst mal ganz laut Hey, und ziehe den Arm weg. Dann folgt die Rechtfertigung „Ich mache das für Dich!“. Ich versuche ihm zu erklären, dass er mich total erschreckt hat, finde aber kein Gehör. Stattdessen nehme ich wahr, dass er weiter hinter mir auf der Rolltreppe fährt.
Was war passiert? Ich gehe davon aus, dass dieser Mann noch nie Berührung mit blinden Menschen hatte. Und dann sieht er eine blinde Frau, die mit normaler Laufgeschwindigkeit auf eine Rolltreppe zu läuft, und sieht sie schon diese hinunter stürzen. Und da man die Frau unbedingt vor dieser Gefahr bewahren muss, heißt es jetzt schnell handeln, und diese mit Kraft festhalten. Wahrscheinlich würde die Frau ihm als ihren Retter auf ewig dankbar sein.
Und ich? Ich stand auf der Rolltreppe, und hatte mein Gewicht entsprechend verlagert, so wie jeder sehende Mensch es ebenfalls tut. Und während dieses Prozesses greif jemand ein, und bringt mich fast aus dem Gleichgewicht. Bei allem Verständnis kann ich dafür weder Dankbarkeit, noch Freude empfinden. Dankbarkeit bestenfalls dafür, dass ich eine gute Körperbeherrschung habe. Denn sonst hätte ich mich bei der Aktion ordentlich verletzt. Auch wenn ich solche Situationen immer wieder erlebe, bin ich einfach nur erschrocken. Und mich macht diese Lernresistenz mancher Zeitgenossen immer wieder fassungslos. So, und außerdem sehe ich den Typen nicht. Sprich, mir fehlt die Information darüber, ob das jetzt Freund oder Feind ist. Und solange die Person nicht mit mir spricht, stufe ich sie erst mal als potentielle Gefahr ein. Fragt Euch mal wie es Euch ginge, wenn jemand Euch von hinten packt, irgendwohin schiebt, ohne zu sprechen, und Ihr könntet ihn nicht anschauen.
Hätte der Mann mich angesprochen, dann hätte ich Gelegenheit gehabt mich zu bedanken und die Hilfe höflich abzulehnen, oder bei Bedarf anzunehmen. Kurz, ich hätte mich nicht erschrocken, und könnte ihn richtig einordnen. Das hat einfach gefehlt.

Ich möchte nicht darüber diskutieren, ob und wie viel Hilfe Menschen mit einer Sehbehinderung brauchen. Denn da blind nur eine Eigenschaft von ganz vielen anderen Eigenschaften ist, unterscheidet sich auch hier der Hilfebedarf. Gemeinsam aber haben wir, dass jeder gern selbst entscheidet wann er welche Hilfe annimmt, und wann lieber nicht. Das ist genauso wie bei Familien, denen Hilfe bei der Kindererziehung angeboten wird. Manches Elternteil ist dankbar dafür, ein anderes Elternteil lehnt das kategorisch ab. Und dazwischen gibt es ganz viel Spielraum. Und bei Menschen mit Behinderung ist es ebenso.
Und so geht es richtig. Wenn Ihr jemanden seht, der vielleicht Hilfe brauchen könnte, dann bietet ihm diese an. Überlasst es ihm selbst diese anzunehmen, und vertraut darauf, dass die Person schon weiß was sie tut. Ich als blinde Frau kann besser einschätzen wann ich Hilfe brauche, und wann diese für mich hinderlich ist. Und was ich auch nicht brauche, das sind Kommentare wie „Vorsicht, da ist ein Mülleimer, eine Wand oder was auch immer“. So was erzeugt Stress und man fühlt sich beobachtet. Vielleicht laufe ich absichtlich darauf zu, weil mir dieses Hindernis eine Orientierungshilfe auf meinem Weg bietet.

Und jetzt freue ich mich auf einen spannenden Meinungsaustausch in den Kommentaren.

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Allgemein Alltag unterwegs

Der Blindenstock, Stigma oder Befreiung

Die Woche des Sehens beginnt alljährlich am 8.10. und wird mit dem Tag des weißen Stocks am 15.10. abgeschlossen.

Der Blindenstock begleitet mich seit meiner Jugend, er ist für mich das Hilfsmittel der Wahl. In dieser Zeit musste ich lernen, dass eben diesem Hilfsmittel, mehr oder weniger, interessante Eigenschaften zugeschrieben werden, die mich schon mal den Kopf schütteln lassen. Hier nur ein paar Aussagen von blinden Nutzern aus meiner Facebookseite:
– Eine Kassiererin wollte ihn scannen, weil sie ihn für einen Nordic Walking Stock hielt,
– Frage an den Nutzer ob er damit etwas vermesse,
– Frage, ob das eine Wünschelrute ist,
– Im Krankenhaus wird Gehstock als Hilfsmittel angekreuzt,
– Frage, ob der Stock mir den Weg zeigt,
– Frage, ob er grüne Ampeln ansagt,
– Ein Flughafenmitarbeiter stufte ihn als Waffe ein, und wollte ihn konfiszieren.

Der Blindenstock hat zwei wesentliche Funktionen. Einmal ist es ein international anerkanntes Kennzeichen dafür, dass der Nutzer eine Sehbehinderung hat. In der Praxis heißt es, dass er anderen Verkehrsteilnehmern sichtbar macht, dass er/sie nicht, oder nur eingeschränkt sehen kann. Ich sehe Dich nicht. Also weiche Du mir aus, oder sprich mit mir.
Gerade für Menschen, die noch nicht so lange blind sind, oder für Jugendliche ist es oft eine große Überwindung sich mit dem Blindenstock zu kennzeichnen, denn damit fällt man sofort ins Auge. Und es gibt noch immer Zeitgenossen, die einen wie ein Wundertier anstarren. Das wird auch schon mal von Begleitpersonen als unangenehm empfunden. Das führt auch schon mal dazu, dass Begleiter einen bitten den Stock in die Tasche zu stecken, damit die Leute nicht mehr gucken. Ich selbst habe eine Weile gebraucht, um zu sagen, dass es mich mit dem Stock ausschließlich im Doppelpack gibt. Denn nur der Nutzer entscheidet ob er den Stock sichtbar trägt oder nicht. Und niemand sonst.
Die zweite entscheidende Funktion des Blindenstocks ist, dass er mein Auge am Boden ist. Bevor ich also gegen ein Hindernis stoße, macht es der Blindenstock für mich. Und dem tut es nicht weh. Meiner Nase hingegen schon. Wie das funktioniert, und wo die Grenzen liegen, habe ich in der Blindenstock in der Praxis beschrieben. Und ganz wichtig dabei ist: Hindernisse sind manchmal wichtig. Sie dienen mir zur Orientierung. Es besteht also keine Notwendigkeit einen blinden Menschen zu warnen, wenn der Stock einmal gegen eine Hauswand, einen Ampelmast oder einen Blumenkübel knallt. Auch wenn es auf sehende Verkehrsteilnehmer sicherlich beängstigend wirkt.
Und nun die Frage aller Fragen: Was wirkt besser, ein sehbehinderter Nutzer, der sich nicht kennzeichnet, und mit seinem bisschen Restsehen versucht sich zu orientieren, oder ein sehbehinderter Nutzer, der seinen Stock mitnimmt, und damit signalisiert, dass er eine Sehbehinderung hat? Diese Frage sollte jeder für sich selbst beantworten können. Es gibt in der Rechtsprechung keine eindeutige Kennzeichnungspflicht im Straßenverkehr, wie auf den Seiten der RBM nachzulesen ist.

Für mich ist der Blindenstock längst kein Stigma mehr, sondern eher ein Hilfsmittel, welches mir eine Freiheit garantiert mich selbstbestimmt in der Weltgeschichte zu bewegen. Und wenn ich ihn doch mal loswerden möchte, dann lässt er sich bequem zusammenklappen oder auch mal unter den Arm klemmen.

Zum guten Schluss noch drei Ratschläge, die ich potentiellen Helfern mit auf den Weg geben möchte:
– Zieht niemals einen blinden Menschen am Blindenstock irgendwohin.
– Jemandem den Stock ungefragt aus der Hand nehmen, damit er leichter aus dem Zug steigen kann, ist ein NoGo.
– Der Blindenstock gehört auch nicht ungefragt weggestellt oder an die Garderobe gehängt.