Kategorien
Allgemein Bildung

Nähen ohne zu sehen – so geht’s

Blind und nähen, wie passt das zusammen? In diesem Zusammenhang höre ich immer wieder Sätze wie: „Du könntest Dich schneiden“, oder „An der Nähmaschine können sich sogar Sehende verletzen“. Von der Fragestellung nach Schnitt oder Muster wollen wir mal gar nicht erst reden. Auch ich dachte lange Zeit so. Denn meine Kenntnisse und Erfahrungen reichten nicht weiter als bis zum Vernähen eines Fadens oder einen Knopf annähen. Auch fühle ich mich eher an der Stricknadel zuhause.

Ich wurde eines Besseren belehrt, als ich an einem Workshop teilnahm, den Reiner Delgado, Sozialreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands, anbot. Dieser richtete sich sowohl an blinde und sehbehinderte Teilnehmer, als auch sehende Personen, die es einmal blind probieren wollten. Reiner ist selbst blind, und näht viel in seiner Freizeit.

Fangen wir mal ganz vorne an. Denn am Anfang steht die Idee. Und die bekamen wir durch Reiner vermittelt, der eine Tasche aus drei gleichgroßen Quadraten gefertigt hatte. Diese sollten wir zuschneiden und zusammennähen.

Lydia misst mit einem Zollstock Stoff aus

Abmessen und Zuschneiden des Stoffs
Mit einem Lineal, einem Maßband oder einem festen Zollstock wird die Länge des Stoffs abgemessen. Reiner zeigt uns einen Zollstock mit taktilen Markierungen im Abstand von 1 cm, und einer anders fühlbaren Markierung für 5 und 10 cm. Diesen legt man an dem Stoff an, und markiert sich die Länge. Es geht einfacher, wenn man den Stoff fixieren kann, damit dieser nicht wegrutscht oder Falten werfen. Dafür kann man ein Hilfsmittel aus dem professionellen Nähbereich verwenden.
Ist der Stoff erst mal ausgemessen und fixiert, kann er zugeschnitten werden. Man kann hierfür eine Nähschere verwenden, oder einen Cutter. Damit kann man direkt am Lineal entlang schneiden, sollte aber ein Schutzbrett zwischen Tisch und Stoff legen. Auch dieses Zubehör ist in einem Geschäft für Nähbedarf erhältlich.

Lydia schneidet ein Stück Stoff zu

Ränder abstecken und bügeln
Sind die Quadrate fertig zugeschnitten, knicken wir an den Seiten die umgenäht werden sollen etwa 2 cm ab. So entsteht eine saubere und gut fühlbare Kante. Diese wird mit herkömmlichen Stecknadeln abgesteckt. Um die Kante zu festigen, werden die Kanten noch mal gebügelt.

Zusammennähen
Ich empfehle allen sehbehinderten Nutzern einer Nähmaschine sich das Gerät im ausgeschalteten Zustand von allen Seiten zu betasten und erklären zu lassen. Außerdem ist es wichtig ein Gerät zu benutzen, das sich per tastbarer Schalter oder Drehregler bedienen lässt. Touchscreen geht für blinde Nutzer gar nicht. Gut und hilfreich ist eine Einfädelhilfe. Das geht nicht nur für sehende schneller, sondern senkt bei allen Beteiligten die Verletzungsgefahr.

Die Auswahl des Stoffs
Dennoch möchte ich auch diese Frage thematisieren. Bei unserem Workshop stellte sich das Problem nicht, da der Stoff vorgegeben wurde. Sehende Teilnehmer gehen primär nach der Farbe oder der Musterung des Stoffs. Als blinde Nutzerin ist für mich der Stoff selbst wichtig. Wie fühlt er sich an? Wie fällt er? Wie klingt es, wenn ich mit der Hand darüber streiche? Das sind Fragen, die sich für mich erst mal stellen. Farbbeschaffenheit ist eine Information, welche mir ein technisches Hilfsmittel zur Farberkennung liefert, bzw. eine sehende Person, die mir die Auskunft erteilt. Und hier ist es davon abhängig, ob es mir wichtig ist, dass die Farbe auch anderen Leuten gefällt, oder ob es mir, und nur mir gefallen soll. Die Wahl einer Farbe, oder eines Musters, welches sichtbar ist, stellt somit immer einen Kompromiss dar, wenn es mir wichtig ist, dass es auch anderen gefällt. Denn die Person, welche mich beraten hat, steht für sich und ihren eigenen Geschmack, und nicht für alle anderen Menschen, deren Meinung mir wichtig ist. Es setzt also im wahrsten Sinne des Wortes blindes Vertrauen voraus.

Bereits Im Oktober 2016 initiierte das Goethe-Institut Paris in Zusammenarbeit mit vier renommierten Modehochschulen aus Deutschland, Frankreich, Schweden und Belgien das Recherche- und Ausstellungsprojekt BEYOND SEEING. Im Rahmen von internationalen Recherche-Workshops, einer Ausstellung und einem diskursiven Begleitprogramm zielt das Projekt darauf ab, Mode in einem Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen über den visuellen Reiz hinaus wahrnehmbar zu machen. Bislang nicht miteinander in Berührung gekommene Zielgruppen – Designstudierende, blinde und sehbehinderte Teilnehmer sowie Experten verschiedenster künstlerischer Disziplinen – werden erstmalig zusammengebracht, um gemeinsam innovative Designkonzepte zu entwickeln. Dieses Projekt durfte ich als blinde Bloggerin aus Deutschland ein stückweit begleiten, und werde nach und nach über verschiedene Aspekte berichten. In „Mode, Kunst und Shoppingtour“ habe ich über die Veranstaltung berichtet, die im Oktober 2016 in Berlin stattfand. Weitere Beiträge, die sich um die Ausstellung in Paris ab dem 18.01.2018 drehen, sollen folgen. Ich möchte eine angehende Modedesignerin zum Thema „Mode für blinde Menschen“ fragen, über die Reise selbst schreiben, und über die Wahrnehmung von Kunst, wenn man blind ist.

Wenn Euch meine Beiträge gefallen, dann freue ich mich, wenn Ihr meinem Blog folgt. Für jetzt lade ich Euch ein, in den Kommentaren über diesen Beitrag zu diskutieren.