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Als blindes KitaKind arabischer Eltern

Mit 6 Jahren besuchte ich zum ersten Mal einen Kindergarten. Hier hatte ich meine ersten regelmäßigen Kontakte mit deutsch sprechenden Kindern.

Ich war sechs Jahre alt, als ich die Chance bekam halbtags einen Kindergarten zu besuchen. Meine Eltern hatten in einigen Kindergärten nachgefragt und stets eine Absage erhalten. Grund war, dass sie kein blindes Kind aufnehmen wollten oder konnten. Irgendwann fand sich ein Kindergartenplatz für mich. Mein fünfjähriger Bruder, der ebenfalls einen Platz brauchte, konnte dort nicht aufgenommen werden. Daher hatte meine Mutter morgens und mittags einen recht langen Fußweg zu bewältigen, bis wir beide in unseren Kindergärten und sie wieder zuhause waren. Sie war zu dem Zeitpunkt schon hochschwanger. Und als meine Schwester zur Welt kam, wurde das Ganze zu einer absoluten Herausforderung für sie erst meinen Bruder und dann mich um 8:00 in den Kindergarten zu bringen.
Ich hatte im Kindergarten zum ersten Mal regelmäßig Kontakt mit nicht arabisch sprechenden Kindern. Das war für mich eine absolute Umstellung. Von meinem Vater getrennt zu sein war ich gewohnt. In meinen ersten vier Lebensjahren kannte ich ihn ohnehin nur vom Hörensagen, da er in Deutschland lebte, und wir in Jordanien. Und auch später war er tagsüber bei der Arbeit. Meine ständige Bezugsperson war meine Mutter, die meistens in meiner Nähe war. Heute würde man sie als eine Art Helikopter Mummy bezeichnen. Denn was meinen Bruder und vor allem mich anging, so überließ sie nichts dem Zufall.


Und jetzt waren da andere Erwachsene im Kindergarten, die sich um mich kümmerten. Und natürlich die anderen Kinder. Und die taten alle ganz spannende Dinge, die ich noch nicht kannte. Es wurde deutsche Kinderlieder gesungen, Geschichten erzählt und gespielt. Und ich durfte dabei sein.
Besonders spannend fand ich es, wenn ein Geburtstag war. Dann gab es Kuchen und Kerzen darauf. Und das Geburtstagskind bekam etwas Schönes geschenkt. Und dann waren da noch die Bastelaktionen vor Weihnachten oder Ostern. Für mich war das was absolut spannendes. Das gab es zuhause gar nicht.
Im Prinzip verlief mein Leben zweigeteilt. Im Kindergarten wurde deutsch und außerhalb wieder arabisch gesprochen. Und vorerst änderte sich das nicht, da unser Bekanntenkreis hauptsächlich aus arabisch sprechenden Leuten bestand. Deutsch wurde nur gesprochen, wenn das Gegenüber kein arabisch verstand.
Schade ist, dass ich keine Erinnerung mehr an Einzelheiten aus dieser Zeit habe. Ich weiß nur, dass ich es schön fand. Ich fand schnell Freunde, die sich nicht im Mindesten daran störten, dass ich kaum etwas sah. Es war alles so selbstverständlich. Gelebte Inklusion eben. Auch wenn damals noch keiner dieses Wort in den Mund nahm.
Während dieser Zeit verbesserte sich mein Deutsch ganz ordentlich, ohne dass ich es irgendwie merkte. Und das war auch gut so. Denn gerade Sprache ist für einen blinden Menschen etwas sehr wichtiges, um sich gezielt mitzuteilen. Gestik und Mimik fallen hier nun mal aus. Und so wurde der Grundstein dafür gelegt, dass ich es in der Schule leichter haben würde.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

6 Antworten auf „Als blindes KitaKind arabischer Eltern“

Ein toller und ehrlicher Beitrag! Ich glaube es ist für Kinder auch sehr wichtig schon im jungen Alter unter Kindern zu sein. Eben weil sich Kinder vieles durch andere Menschen aneignen. Wie z.B. bei dir die Sprache. Kinder lernen ja so viel schneller. Das klingt nach einem sehr schönen Kindergarten Aufenthalt 🙂

Liebe Grüße,
Susanna

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Ich kenne das auch, ohne Deutschkentnisse in den Kindergarten zu kommen. Bis dahin sprach ich nur türkisch und die ersten Monate im Kindergarten fühlte ich mich komplett hilflos. Ich verstand die Erzieherinnen nicht, die Kinder wollten nichts mit mir zu tun haben. Ich wurde zwangsgefüttert und angebrüllt, man sperrte mich allein in den Gruppenraum wenn die anderen Kinder draußen spielen durften, oder ich wurde mit rausgenommen und stand in irgendeiner Ecke rum und wusste nicht, wo ich überhaupt hingehen kann und wo es ungefährlich für mich gewesen wäre. Ich hasse meinen damaligen Kindergarten zutiefst und bin froh, dass meine Kinder in einem deutlich besseren untergekommen sind.

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In meinem Kindergarten war es seltsam: Fast alle anderen Kinder (mit einer einzigen Ausnahme) sprachen Dialekt, und zwar einen, der so ausgeprägt war, dass er als andere Sprache anerkannt werden könnte. Ich verstand sie nicht. Allerdings sollten die anderen Kinder dort (Hoch-)Deutsch lernen, also sprach die Erzieherin in der mir gewohnten Sprache mit allen. Das ist eine Konstellation, die sozial sehr isolierend wirken kann, auch wenn sie – mit Heatis Lage verglichen – zunächst als Privileg erscheinen mag. Und nein, ich mochte meinen Kindergarten auch nicht. Über die Kindergärten meiner Tochter schweigt die Chronik ebenfalls lieber, aus anderen Gründen. Ich bin froh, dass wir mit den beiden bilingualen Kindertagesstätten für meine Enkel jeweils ein sprachlich-religiös-kulturell buntes, sozial warmes Klima gefunden haben, in dem sich die Kinder wohlfühlen und in dem sie lernen, dass es mehr als ein Regelsystem gibt, nach dem Menschen miteinander klarkommen können!

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