In einem Workshop erzähle ich einer Gruppe angehender Krankenpfleger von meinem Alltag als blinde Mutter. Meine Gruppe ist interessiert und macht gut mit. Und dann kommt sie, die Frage aller Fragen. „Sind Ihre Kinder sehend?“ Ja, sind sie. Und nach Schema F kommt die Frage: „Dann beschreiben sie Ihnen bestimmt alles was sie sehen“. Kopfkino. Ich stelle mir meine Kinder vor, wie wir eine belebte Einkaufsstraße entlang laufen, und sie mir wirklich alles Gesehene im Wechsel in Worte fassen. Will ich das wirklich? Nein, ich glaube nicht.
Grundsätzliches zur Wahrnehmung blinder Personen
Blind ist man, wenn man auf dem besser sehenden Auge einen verwertbaren Sehrest von 2 % hat. Ein Straßenschild, welches ein normalsehender Verkehrsteilnehmer auf 100 m Entfernung sieht, ist für einen Blinden erst bei einer Entfernung von unter 2 m wahrnehmbar. So zunächst einmal die Theorie. Denn je nach Augenerkrankung kann das variieren. Jemand, der wie ich stark auf Licht reagiert, sieht dieses Straßenschild bei Sonnenschein gar nicht, und bei guter Beleuchtung schon ab 5 m Entfernung. Und einer Person, die komplett blind ist, sieht dieses Schild gar nicht. Aber davon sind nur ca. 4% aller blinden Menschen betroffen.
Kleine aber feine Unterschiede
Stell Dir vor, Du bist unterwegs, und Deine Begleitung textet Dich im Akkord zu. Dazu kommen Deine eigenen Eindrücke, Straßengeräusche, andere Personen, die sprechen, Gerüche usw. Das mag am Anfang noch recht lustig sein, wird aber irgendwann einfach nur noch stressig, wenn die Informationen ungefiltert auf Dich einprasseln. Deshalb hat die Natur natürliche Filtersysteme eingebaut, die eine Reizüberflutung verhindern. Das solltest Du wissen, wenn Du einem blinden Menschen Dinge beschreibst. Die Devise heißt hier Qualität statt Quantität. Und wenn Du Dir nicht sicher bist, frag einfach. Mir persönlich ist ein nettes Gespräch lieber als eine permanente Beschreibung der Umgebung. Es sei denn ich möchte gezielt Details aus der Umgebung wissen. Aber dann ist es auch an mir das zu sagen.
Bilder beschreiben
Beschreibungen wie „Ach wie süß“, oder „Erstaunter Blick“ sind für mich absolut nichts sagend. „Lydia hält lächelnd einen Kuchen in die Kamera“ ist dagegen eine Beschreibung, unter der ich mir etwas vorstellen kann. Im Deutschunterricht lernen wir, dass ein Satz aus Subjekt, Prädikat und Objekt besteht. Das gilt auch für Fotobeschreibung. Wer macht was mit wem?
In diesem Zusammenhang taucht oft die Frage auf, warum blinde Personen sich für Bilder interessieren, wenn sie diese nicht sehen können. Je nach Sehfähigkeit können blinde Betrachter Bilder erkennen. Ich kann es nicht. Aber ich will mir vorstellen können, was auf dem Foto ist. Daher habe ich Fotos gern auf meinem Rechner oder Smartphone. Hier kann ich dem Foto einen sprechenden Namen geben. „Lydia sitzt auf dem Bett und Streichelt eine schwarze Katze.jpg“ könnte ein Dateiname sein.
Ein Nogo, was ich oft erlebe ist, dass mir Personen mehrere Fotos als Anhänge eine E-Mail zuschicken, und die Beschreibungen in den Text schreiben. Die Frage, welches Foto zu welcher Beschreibung gehört, kann ich nicht ohne fremde Hilfe beantworten. Steht die Beschreibung im Dateinamen, oder ist dieser noch mal vor der Beschreibung aufgeführt, dann kann ich das Foto zuordnen, und entsprechend gezielt abspeichern. Detailliert habe ich das in meinem Beitrag „Bilder für Blinde zugänglich machen“ beschrieben.
Texte vorlesen oder beschreiben
Wenn ich jemanden bitte mir einen Brief oder Zettel vorzulesen, dann meine ich das auch so. Eine Jugendfreundin fand es einfacher mir eine Zusammenfassung eines Schreibens wiederzugeben. Das war nett gemeint. Aber ich meinte vorlesen, und nicht zusammenfassen und möglicherweise für mich interpretieren. Das möchte ich gern selbst tun.
Einen Weg richtig beschreiben
Blinde Menschen orientieren sich an Blindenleitstreifen, wenn diese vorhanden sind, oder an markanten Punkten. Das sind Dinge, die einen konstanten Standort haben. Das kann eine Einfahrt, eine Straßenkreuzung oder ein Verteilerkasten sein. Das Geräusch eines Lüftungsschachts, einer verkehrsreichen Straße oder Rolltreppe kann ebenfalls als Orientierung dienen. Sogar ein Geschäft, welches einen bestimmten Duft ausströmt, kann eine Orientierung sein. Das sollte man beachten, wenn man einem blinden Verkehrsteilnehmer einen Weg beschreibt. Eine Beschreibung könnte lauten: „Steig an der Bushaltestelle Bahnhof aus, laufe gegen die Fahrtrichtung bis zum Ende, drehe Dich um 90 Grad nach links, und überquere den Zebrastreifen. Dann drehe Dich 90 Grad nach rechts, laufe bis zur nächsten Kreuzung, biege nach links ab, und dann ist es der dritte Hauseingang. Die dritte Klingel von oben ist dann meine“. Man sollte sich dabei vergegenwärtigen, dass der blinde Fußgänger keine Hausnummern oder Straßennamen lesen kann.
Am besten ist es in diesem Zusammenhang danach zu fragen welche Details derjenige für die Orientierung braucht. Das ist völlig legitim und eine elegante Lösung, um Fettnäpfchen zu umschiffen.
Ich kann keine Straßennamen oder Hausnummern mehr lesen. Habe ich eine Beschreibung wie „Gegenüber der Volkshochschule das grüne Gebäude“, so ist diese für mich Wertlos. Mit der Adresse bestehend aus Straße und Hausnummer kann ich eher etwas anfangen. Und wer mir was Liebes tun möchte, sagt mir in welchem Stadtteil das ist, oder ob diese von einem öffentlichen Verkehrsmittel angefahren wird.
Und jetzt freue ich mich auf Eure Kommentare.