Auf dem Bild sieht man mich mit dem Blindenstock in der rechten Hand. Meine Linke liegt auf dem Ellenbogen eines sehenden Mannes, der mit mir über die Straße läuft.
Frankfurt Konstablerwache. Wer die dortige Station etwas besser kennt, weiß, dass es einen kleinen Spalt zwischen Tür und Bahnsteig gibt. Mit dem Blindenstock kann ich diesen mühelos erfühlen. Ich will gerade aus der SBahn aussteigen und strecke meinen Stock aus, um eben diesen Spalt zu ertasten. Ich habe es gefunden und mache einen Schritt nach draußen. Plötzlich fasst mich jemand am Arm und schiebt. Da ich den einen Fuß noch nicht aufgesetzt habe, gerate ich erst mal ins Schwanken. Ich verdanke es meinen Reflexen, dass ich nicht der Länge nach auf den Boden knalle oder der Fuß in den Spalt gerät.
Der vermeintliche Helfer war vermutlich ebenso erschrocken wie ich. Erst recht, da ich meinen Unmut lautstark geäußert habe. Er hat gesehen, dass da eine Blinde aussteigen will und wollte helfen. Gedacht getan. Die Blinde am Arm gepackt und geschoben. Und dabei nicht überlegt, dass er mich in Gefahr gebracht hat. Und dann beschwert die sich auch noch. typisch Behinderte wieder. Die wollen eben keine Hilfe.
Diese und ähnliche Äußerungen muss ich mir des Öfteren anhören. Tja, Wir hätten beide mehr davon gehabt, wenn er mich einfach gefragt hätte.
Als Kind lief ich stets an der Hand eines Sehenden. Daher kannte ich es auch nicht anders. Die einzige Ausnahme war, dass ich mich am Kinderwagen meiner jüngeren Geschwister festhielt. Daher kam ich gar nicht auf die Idee, dass es wesentlich hilfreichere Techniken gibt sich von einer sehenden Begleitung führen zu lassen. Auch andere Erwachsene führten mich stets an der Hand. Daher nahm ich das absolut als gegeben hin.
Das änderte sich, als ich im zarten Alter von 14 Jahren meinen ersten Mobilitätstrainer kennenlernte. Bevor er mir den Umgang mit dem Blindenstock vermittelte, machten wir auch andere Übungen zur Orientierung. Dabei zeigte er mir auch wie ein normal Sehender einen Blinden ohne viel Einarbeitung führen kann.
Der Sehende läuft etwa einen halben Schritt voraus, während der Blinde seine Hand auf den Ellenbogen des Sehenden legt. Liegt die Hand des Blinden zwischen Ellenbogen und Körper des Sehenden, kann er sämtliche Bewegungen spüren und sofort reagieren. Mit diesem Griff kann man auch in schnellem Tempo miteinander laufen. Dabei braucht der Sehende seinen Arm nicht zu verspannen oder eng an den Körper gedrückt zu halten. Denn der Blinde wird sich daran festhalten. Schließlich hat er ein Interesse daran geführt zu werden.
Der Sehende kann den Blinden buchstäblich mit seinem Arm steuern. Wird es eng, so bewegt er diesen etwas nach hinten und macht sich dabei selbst etwas schmal. Das spürt der Blinde und kann so hinter dem Sehenden laufen, ohne den Kontakt zum Arm zu verlassen.
Auch bei Treppen funktioniert das. Der Blinde spürt an der Bewegung des Sehenden wie tief die Stufe geht und in welche Richtung. Viele Sehende bleiben vor jeder Stufe stehen. Das empfinde ich als nicht hilfreich. Solange der ‚Sehende in Bewegung ist, bekomme ich Informationen. Bleibt er aber stehen, so mache ich das ebenfalls so. Es ist okay, wenn der Sehende dem Blinden sagt, dass jetzt eine Treppe kommt. Gerade, wenn man zum ersten Mal miteinander läuft, macht es Sinn. Unsinnig ist es jedoch die Treppen aus weiter Entfernung anzusagen. Ein Schritt vorher reicht aus.
Und bitte, bitte, bitte, sagt nicht jede einzelne Stufe an. Das nervt nur und ist absolut unnötig. Es sei denn der Blinde ist unsicher und fordert das explizit ein.
Manche Blinden nehmen den Sehenden nicht am Arm, sondern legen einem die Hand auf die Schulter. Die Technik ist die Gleiche. Hier ist es wie bei Waschmaschinen. Der eine bevorzugt Frontlader, der andere Topplader. Und beide waschen gleichgut.
Irrtümlich glauben viele Sehende, Blinde müsse man an die Hand nehmen. Wenn ich bei jemanden an der Hand laufe, dann nur wenn es unbedingt sein muss. Und dann nehme ich meinen Blindenstock zu Hilfe. Denn der verleiht mir dann mehr Sicherheit als die vermeintlich führende Hand.
Was aber generell nicht geht ist, wenn jemand mich am Arm oder am Stock nimmt, um mich zu führen. So was passiert oft beim Aussteigen aus dem Bus oder beim Überqueren einer Straße. Werde ich gefragt, so habe ich Gelegenheit demjenigen zu zeigen wie ich gern geführt werden möchte. Wenn mich jedoch einer ungefragt anfasst, dann muss er auch damit rechnen, dass ich ihn als Gefahr einordne und mich dementsprechend verhalte.
Was auf mich ziemlich komisch wirkt ist, wenn ein hilfsbereiter Mensch mich am Blindenstock packt und zieht. In einer solchen Situation habe ich den Stock auch schon mal losgelassen. Natürlich lag er dann am Boden. Ich habe dann zuckersüß gefragt, ob ich den bitte wiederhaben kann. Ich bin sicher, dass dieses Erlebnis eine nachhaltige Wirkung auf den Helfer gezeigt hat. Mehr vielleicht, als wenn ich ihm lang und breit erklärt hätte warum diese Aktion völlig unsinnig ist.
Fragen helfen. Und das gilt auch im Umgang mit uns Menschen mit Behinderung.
Zum Schluss noch eine nette Situation wie es auch gehen könnte. Ich laufe einen Bürgersteig entlang. Mit meinem Sehrest nehme ich noch irgendwie wahr, dass jemand ziemlich nah an der Hauswand geparkt hat, was eigentlich nicht sein darf. Der Fahrer ist dabei etwas auszuladen, als er mich bemerkt. Er sagt mir, dass sein Auto im Weg steht und bietet mir an mich daran vorbeizuführen. Dabei stellt er die entscheidende Frage: „Darf ich Ihren Arm nehmen“? Und so habe ich Gelegenheit ihm zu zeigen wie ich es lieber möchte. Über solche Menschen freue ich mich immer wieder. Vor allem, da sie mitdenken.
6 Antworten auf „Wie führt man einen Blinden?“
Für mich als Sehenden sind Deine Beiträge wie ein Handbuch. Toll, immer weiter dazu zu lernen. Danke.
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Das hast du jetzt schön gesagt. 🙂
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Gerne. 🙂
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Gut geschrieben. Eine ‚Gebrauchsanweisung‘, die auch verständlich ist. Und sich vor allem auch schon allein durch den ‚gesunden Menschenverstand‘ fast wie von selbst erschließt. Weiter so!
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Das war richtig anschaulich wiedergegeben.
Schön mal solche Dinge zu lesen.
Grüße
Iris
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Das muss dem „blienden Ermittler“ gesagt werden.
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