Meine Freundin Jenny und ich lernten uns in der siebten Klasse kennen. Wir hatten Schulen für blinde Kinder aus unterschiedlichen Bundesländern besucht. Und jetzt besuchten wir beide das Gymnasium an der Blista in Marburg. Wir sahen total gegensätzlich aus. Dennoch verwechselte man uns ständig. Wahrscheinlich lag es daran, dass wir während der Schulzeit zusammen hingen, in der Schule nebeneinander saßen und auch einen Großteil unserer Freizeit zusammen verbrachten.
Marburg war zu weit weg, um täglich nach Hause zu fahren. Daher lebten wir Schüler in einem Internat. Genauer gesagt in Wohngruppen, die in den ersten beiden Jahren aus etwa zehn Schülerinnen und Schülern und vier Betreuern bestanden. Sowohl meine Wohngruppe, als auch die, in der Jenny wohnte, befanden sich auf dem Schulgelände. Das hieß für uns, dass wir einen kurzen Schulweg hatten, zum zweiten aber auch, dass Jenny und ich uns jederzeit gegenseitig besuchen konnten. Wir waren beide in der Pubertät, und taten all das, was andere Kinder in diesem Alter eben tun.
Zum Konzept der Schule gehörte nicht nur der Schulunterricht. Außerhalb der Schulzeit gab es Mobilitätstrainer, die dazu da waren uns den Umgang mit dem Blindenstock beizubringen. Außerdem war auch Unterricht in sogenannten lebenspraktischen Fertigkeiten vorgesehen. Dazu gehörten Dinge wie kochen, putzen oder andere häusliche Tätigkeiten. Ziel war, dass wir im Laufe der nächsten Jahre immer selbständiger werden sollten, um eines Tages alleine leben zu können.
Unsere Wohngruppe besaß eine voll ausgestattete Küche, in der wir auch schon mal gemeinsam mit unseren Erziehern kochten, oder auch mal einen Kuchen backten.
Es muss in der achten Klasse gewesen sein, als Jenny und ich die Idee hatten alleine einen Kuchen zu backen. Dafür gingen wir richtig pragmatisch vor. Wir besorgten uns ein gedrucktes Rezept, schauten in der Küche nach ob alle Zutaten da waren und besorgten die Fehlenden im nächstliegenden Supermarkt.
Dazu muss ich sagen, dass ich damals noch mit Hilfe einer zwölffach vergrößernden Lupe gedruckte Bücher bzw. Anweisungen auf Lebensmittelverpackungen lesen konnte.
Also holten wir eine große Backschüssel, eine blindengerechte Küchenwaage und den elektrischen Handmixer aus dem Schrank und führten alle Schritte aus, die auf dem Rezept angegeben waren. Dabei hatten wir einen Heidenspaß.
Als letzten Schritt gaben wir das Mehl hinzu. Zwar wunderten wir uns ein bisschen, dass es so viel sein musste, befolgten die Anleitung trotzdem. Was im Kochrezept steht, musste schließlich richtig sein. Seltsam war nur, dass der Teig irgendwann eine betonartige Konsistenz annahm, und der Mixer anfing zu qualmen.
Da wir beiden noch keine Erfahrung im Umgang mit hartem Teig und rauchenden Mixern hatten, kontrollierte ich das Rezept. Es stimmte alles. Und so war ich erst mal ziemlich fertig mit der Welt. Was hatte ich hier bloß falsch gemacht? Nachdem wir beide keine Idee für das weitere Vorgehen hatten, beschlossen wir schweren Herzens doch mal unsere diensthabende Erzieherin zu fragen. Diese zeigte uns dann, wie man den Kuchen retten konnte. Nachdem dieser dann endlich im Backofen vor sich hin backte, suchte ich wieder und wieder nach dem Fehler, den wir vermutlich gemacht hatten. Ich war absolut fertig mit der Welt. Unsere Erzieherin sah sich das Rezept an, und merkte sofort, dass sich bei der Mengenangabe des Mehls ein Druckfehler im Rezept befand. In diesem Moment ist mir wahrscheinlich nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Felsblock vom Herzen gefallen.
Wenn Jenny und ich hin und wieder miteinander telefonieren, erinnern wir uns immer wieder gern an diesen Nachmittag und lachen gemeinsam darüber. So ein Erlebnis verbindet eben.