Immer wieder tauchen Begriffe wie „Selbstbestimmung“ oder „selbstbestimmt leben“ in den Medien auf. Und genauso oft gibt es dazu kontroverse Diskussionen. Meist geht es um Themen wie Assistenz, Heimzwang oder andere gravierende Entscheidungen in der Lebensführung von Menschen mit Behinderung. Aber was bedeuten die Begriffe für mich im Alltag? Wo liegt meine Selbstbestimmung als blinde Mutter? Darauf möchte ich heute einmal mit ein paar praktischen Beispielen eingehen.
Als meine Kinder klein waren, brauchte ich in manchen Bereichen Hilfe. Beispiele waren der Gang mit Kleinkind auf den Spielplatz oder Ausflüge an Orte, die mir nicht vertraut waren, oder die ich aufgrund der Geräuschumgebung nicht handhaben konnte. Dazu gehören Indoorspielplätze oder Schwimmbad.
Die Kinder wurden älter, und es kamen die Bastelnachmittage, Schulfeste und die Läuse, die an vielen Kindergärten und Grundschulen Programm sind. Und dann war da noch das Lesen mit einem Schulanfänger, dass ich nicht alleine meistern konnte, gepaart mit der Ranzenpost, die meine Kinder gern mal vergaßen bei mir abzugeben.
Das sind nur einige Beispiele, für die ich mir Hilfe holen musste. Geld für Elternassistenz gab es nicht. Und so versuchte ich mir die Hilfen aus dem sozialen Umfeld zu organisieren. Das ging mal mehr mal weniger gut. Gerade Hilfe aus dem Verwandtenkreis birgt viel Stresspotential. Denn hier spielen zu viele Emotionen und verschiedene Meinungen über Kindererziehung und andere wichtige Dinge eine große Rolle. Bei mir jedenfalls hat es nicht so funktioniert, dass es mir auf Dauer eine wirkliche Hilfe gewesen wäre. Daher bin ich dazu übergegangen mir die Leistungen, die ich brauchte, irgendwie selbst zu finanzieren. Einen entsprechenden Dienstleister kann ich mit klaren Aufgaben, zeitlichen Absprachen betrauen, und dafür bekommt dieser sein Geld. Fertig! Und wenn die Zusammenarbeit nicht mehr klappt, ist es einfacher sich zu trennen.
Selbstbestimmung ist für mich aber auch, dass ich für mein Tun und Handeln allein verantwortlich bin. Menschen ohne Behinderung werden mit 18 volljährig, und können reisen, einen Vertrag in einem Sportstudio abschließen oder unbegleitet in einen Freizeitpark gehen. Blinde Erwachsene werden in vielen Freizeitparks von der Nutzung von Fahrgeschäften ausgeschlossen. Es gibt einige Fitnessstudios, die blinde Menschen ohne Begleitung ablehnen. Und viele Reiseveranstalter machen die Mitnahme einer Volljährigen Begleitperson zur Bedingung. Kurz, da bestimmen Menschen ohne Behinderung aus der Perspektive „Ich mache die Augen zu und bin hilflos“ darüber was für uns richtig und gut ist. Und das wird dann hübsch in das Sicherheitskonzept verpackt.
Besonders erschreckend dabei finde ich, dass es unter den Betroffenen viele gibt, die das richtig und wichtig finden. Blinde Menschen können nicht sehen. Das heißt aber nicht, dass sie Gefahren nicht einschätzen können.
Es kann also nicht sein, dass ich aufgrund meiner Sehbehinderung eine Begleitperson vorgeschrieben bekomme, die für mich denkt, nur weil da jemand aus der „blind ist gleich hilflos“-Perspektive sich nicht vorstellen kann, dass ich meinen eigenen Hilfebedarf einschätzen kann. Für mich läuft das unter der Kategorie, dass Sehen überbewertet wird. Dabei ist eine Sehbehinderung nur, dass die Augen nicht funktionieren wie bei einem normal sehenden Menschen. Nicht mehr und nicht weniger. Also, Leute, übertreibt es nicht mit Eurem Beschützerverhalten. Und wenn Ihr etwas nicht einschätzen könnt, dann sprecht mit uns, und nicht über uns. Davon haben alle Beteiligten etwas.
So, und damit hier keine Missverständnisse aufkommen, ich gehöre nicht zu den blinden Personen, die meinen alles ganz alleine und ohne fremde Hilfe tun zu müssen. Aber ich werde ziemlich sauer, wenn man mich behandelt, als sei ich nicht in der Lage eigenständig zu denken, Entscheidungen zu treffen und sie mit allen Konsequenzen zu verantworten.
Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien am 30.07.2019 im Newsletter von Raul Krauthausen, für den ich immer wieder gern schreibe.
Eine Antwort auf „Und schon wieder Selbstbestimmung“
Und schon wieder so ein guter, wahrer Beitrag! Danke Dir, liebe Lydia! Ich empfinde es genauso – selbstbestimmt leben zu wollen und für selbstgewählte Dinge Hilfe anzunehmen oder sogar einzufordern, schließt sich in keinster Weise aus, es sind vielmehr Seiten der selben Medaille. Selbstbestimmt leben kann ich schließlich nur, wenn ich weiß, wo ich Hilfe brauche und mir diese organisieren kann, wie ich eben selber will. Hilfe und Unterstützung ist dabei eben auf keinen Fall gleichzusetzen mit Bevormundung, auch wenn viele Menschen und Institutionen das ständig durcheinanderbringen.
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