Meine heutige Gastautorin ist Jennifer Sonntag, die bereits die Beiträge Ich höre Eure Blicke nicht, Ehrenamt oder auch mal nicht und blind schminken für mich geschrieben hat. Auch diesmal greift sie ein Thema auf, welches gern totgeschwiegen oder bagatellisiert wird, nämlich die Suche nach einem Therapieplatz als blinde Frau.
Kliniken lehnten mich wegen meiner Blindheit ab
Triggerwarnung:
In diesem Beitrag geht es um schwere Depressionen und unterlassene Hilfe
Als ich nach einem Therapieplatz in einer Tagesklinik suchte, erhielt ich Aufgrund meiner Blindheit immer wieder Absagen. Dabei hätte ich wirklich dringend Hilfe gebraucht. „Oh, Sie sind blind!? Nein, dann können wir Sie nicht aufnehmen!“ Mit diesen Worten ließ man mich mehrfach ratlos am anderen Ende der Leitung zurück. Die Erklärungen waren immer ähnlich: Man habe nicht genug Personal, um mich als blinde Patientin zu betreuen. Ich könne viele therapeutische Angebote nicht wahrnehmen. Es gäbe zu viele Treppen in der Klinik. Durch Mobbing am Arbeitsplatz hatte sich bei mir eine schwere Depression entwickelt. Ich hatte psychische Erkrankungen zuvor nicht gekannt und versuchte lange, meinen Optimismus nicht zu verlieren. Ich konnte jedoch kaum noch Schlafen und Essen, fühlte mich wie in einer eisernen Klemme und in ständiger Todesangst. Auch wenn ich die Fassade so gut es ging für Außenstehende aufrechterhielt, für meine Lieben war ich nur noch ein Schatten meiner selbst.
Nach wiederholter Krankschreibung wurde ich vom Medizinischen Dienst (MDK) begutachtet. Man riet mir dringend, mir so schnell wie möglich einen Platz in einer Tagesklinik zu suchen. Ich war bereits zu krank für eine Psychotherapie, die nur einmal wöchentlich stattfinden würde und war auf tägliche psychologische Hilfe angewiesen. Auch wenn es zunächst ein Schock für mich war, dass es mich so schlimm erwischt hatte, flammte Hoffnung in mir auf. Vielleicht würde ich meinen Lebensmut zurückerlangen können und wieder gesund werden. Ich konnte nicht ahnen, dass ich im Hilfesystem dann auf so viele verschlossene Türen stoßen würde.
Ich begann verschiedene Einrichtungen abzutelefonieren und sah mich plötzlich mit massiven Berührungsängsten bezüglich meiner Blindheit konfrontiert. Immer wieder musste ich mich erklären, was meine Orientierung und Selbstständigkeit betraf. Als Sozialpädagogin hatte ich viele Jahre in einem helfenden Beruf gearbeitet. Nun war ich auf Hilfe angewiesen und bekam keine. Aufgrund einer unheilbaren Netzhauterkrankung bin ich schleichend erblindet. Ich komme damit im Alltag gut zurecht. Mein Problem war nicht die Blindheit, sondern meine Depression. Und mit jeder Absage wurde meine Verzweiflung größer.
Meine engen Vertrauten waren ratlos und hatten Angst, mich zu verlieren. Nach intensiver Suche begleitete mich mein Vater zu einem lang ersehnten Gespräch in eine teilstationäre Einrichtung, in der ich mich endlich als blinde Patientin vorstellen durfte. Ich ertastete die Umgebung, wir hatten ein gutes Gefühl. Doch einen Tag vor Therapiestart sagte man mir das lang ersehnte Bett wieder ab. Man habe nicht genug Kapazitäten für eine blinde Person im Haus. Meine Eltern konnten es nicht fassen. Sie waren für ein paar Tage verreist, da sie mich in sicheren Händen wähnten und auch etwas Kraft schöpfen wollten in der schweren Zeit. Obwohl ich innerlich längst am Strick hing, hieß es nun wieder warten, wieder auf ein Gespräch hoffen, wieder erklären, bitten, kämpfen.
Schließlich bekam ich dann doch noch den Platz, aber mir wurden viele Therapien verwehrt. Es gab spürbare Zerrissenheit in den Teams. Einige Therapeut*innen schickten mich konsequent weg, weil sie keine Ideen hatten, wie sie mich als blinde Patientin einbinden sollten. Einzelne waren wirklich kreativ und zeigten, dass es durchaus möglich war. Auch beim Pflegepersonal gab es einige offene Menschen, ein großer Teil war jedoch extrem befangen. Dabei bemühte ich mich trotz meiner schlimmen Situation, möglichst unkompliziert zu sein, um Vorurteile abzubauen. Das führte zur Überkompensation, denn wie alle anderen war ich krank und brauchte Hilfe. Manche vermieden es, mich zu führen oder mir etwas zu erklären, ich traute mich dann nicht zu fragen, weil ich nicht aufwändig sein wollte. Da ich so viele Therapien nicht mitmachen durfte, verbrachte ich viel Zeit auf meinem Zimmer und rutschte tiefer in die Depression. Nun war ich schon in diesem Auffangbecken und konnte kaum teilhaben. Tag für Tag wurde ich suizidaler, sprach aber nicht darüber. Ich hatte Angst, wegen meiner Blindheit wieder entlassen zu werden.
Das passierte dann auch, aber aus anderen Gründen. Leider gab es auf unserer Station einen Viruseinbruch. Das war vor Corona, hat aber für mich ähnlich weitreichende Folgen, wie für viele Betroffene heute Post Covid. Alle Patient*innen, die es erwischt hatte, wurden entlassen, um die anderen nicht anzustecken. Mich hatte es besonders schlimm getroffen, da ich als blinde Person viel mit den Fingerspitzen erfassen musste und daher intensiv mit den Infektionsquellen konfrontiert war. Meine Mitpatient*innen waren erschüttert, in welchem Zustand mich mein Partner aus der Klinik schleppte. Man hatte ihn angewiesen, zuhause keinen Notarzt zu rufen, da ich ja offiziell noch im Krankenhaus war. Aus heutiger Sicht ein Skandal! Aber auch meine Angehörigen hatten Angst etwas falsch zu machen und wollten den Klinikplatz nicht riskieren. Ich kollabierte mehrfach, zog mir schlecht heilende Schürfwunden zu, meine hoch angesetzten neurologischen Medikamente, auf die ich angewiesen war, blieben nicht im Körper, ich hatte heftige Entzugssymptome und keinen Tropf. Zu der schweren Depression gesellte sich nun noch ein komplizierter Virusverlauf.
Ich, die ewige Kämpferin, war nun wirklich am Ende angekommen. Ich war so verzweifelt, dass ich auf eine psychiatrische Intensivstation gebracht werden musste. Dort wurde ich mehrere Monate gut betreut. Allerdings waren die Torturen mit dem Viruseinbruch auch körperlich nicht ohne Folgen geblieben. Ich leide noch heute unter Fibromyalgie mit Fatigue, das ist eine schwere Schmerzerkrankung, die mit starker Erschöpfung einhergeht. Außerdem stellte sich ein heftiger Tinnitus ein, so dass ich im Anschluss einen Platz in einem Tinnituszentrum suchte. Erneut stieß ich auf Ablehnungen in mehreren Spezialeinrichtungen bei insgesamt fünf Trägern. Wieder sagte man mir, für Blinde sei das Zentrum nicht ausgestattet. Zum Glück fand ich irgendwann doch eine Verhaltenstherapeutin, die sich auf Tinnitus spezialisiert hatte und sich von meiner Blindheit nicht abschrecken ließ. Das zu erleben hat mir wieder Mut gemacht!
Seit einigen Jahren setze ich michals Inklusionsbotschafterin dafür ein, dass psychische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung nicht zu einer doppelten Ausgrenzung führen. Und ich möchte noch einen Schritt früher ansetzen und Mobbing gegenüber Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz sichtbar machen, welches oft Auslöser für Depressionen ist. Ich durfte inzwischen auch immer wieder inklusionsbereite Therapeut*innen kennenlernen. Leider werden Behinderte Menschen aber noch immer regelmäßig von Rehakliniken ganz verschiedener medizinischer Fachrichtungen abgelehnt, nicht nur in der Neurologie und Psychiatrie. Im Corona-Kontext haben viele Menschen mit Behinderung darum gekämpft, nicht im Rahmen einer Triage aussortiert zu werden. Aussortierung findet aus meiner Sicht bereits statt, wenn wir keinen Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen. Mir ist das bereits passiert, als das Wort Triage noch niemand von uns kannte. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig traumatisiert. Ich möchte über diese Missstände aufklären, damit anderen Menschen mit Behinderungen zukünftig hoffentlich solche schlimmen Erfahrungen erspart bleiben.
Ich danke Dir, liebe Jenny, dass Du Deine Erfahrungen mit uns geteilt hast. Und ich lade Euch, liebe Leser, dazu ein in den Kommentaren darüber zu diskutieren.