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Blind eine Straße überqueren

Blind eine Straße überqueren ist für viele eine Herausforderung. Tips, Erfahrungen und Schwierigkeiten aus meiner Perspektive.

Als ich Kind war, wohnten wir einige Jahre an einer Hauptstraße. Damals besuchte ich noch keine Blindenschule, und wusste noch nicht einmal, dass man blind eine Straße ohne sehende Hilfe überqueren kann. Das hatten mir meine Eltern verboten. Denn blind eine Straße zu überqueren war für blinde Menschen absolut gefährlich. Und ich selbst hatte letztendlich viel zu große Angst, um dieses Verbot meiner Eltern zu missachten. Später zogen wir in eine Gegend, wo es kaum Autos gab.
Hier lernte ich, dass man über eine Straße geht, wenn man kein Auto hört. Alles andere war nach wie vor Tabu. Das blieb auch so. als ich die Blindenschule besuchte. Denn auch hier gingen wir nur in Begleitung auf die Straße. Ich hörte davon, dass die älteren Schüler Stocktraining bekamen, und dann auch mal alleine raus durften. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese alleine über eine Ampel oder eine befahrene Straße gingen. Sicher machten sie es so wie ich, nämlich warten, bis ihnen jemand über die Straße half.
Mit dem Wechsel auf das Gymnasium in Marburg veränderte sich meine Einstellung gravierend. Hier lernte ich akustische Ampeln kennen, die bei Grün einen Ton abgaben. Dann kam das Mobilitätstraining mit dem Blindenlangstock. Und da es nun mal nicht überall blindengerechte Ampeln gibt, lernt man in einem solchen Training auch den Verkehr akustisch einzuordnen und die Ampelphasen zu hören. Wenn ich also eine Querstraße überwinden muss, höre ich nach dem Verkehr, der parallel zu meiner Laufrichtung fährt, und dem Querverkehr, also der auf der Straße, die ich überqueren möchte. Wenn nicht gerade Verkehrsinseln mit merkwürdigen Ampelschaltungen dabei sind, funktioniert das ganz gut.
Das wird im Training gelehrt, funktioniert aber nur nach viel Übung zuverlässig.
In meiner Heimatstadt wurden vor Jahren die meisten Straßen mit blindengerechten Ampeln ausgestattet. Wer die Stadt beraten hat, das weiß ich nicht. Jedenfalls handelt es sich um Ampeln, die während der Grünphase vibrieren. Nun stellen wir uns mal eine Kreuzung mit vier Ampeln vor. Damit sind wir bei acht Ampelmasten. Diese stehen gerade da, wo es irgendwie passt. Mal an der Hauswand, mal direkt am Bürgersteig oder auch mal an der Straßenecke. So, und wenn diese keinen Ton von sich geben, oder kein Leitstreifen zum Ampelmast führt, dann hat der blinde Verkehrsteilnehmer kaum eine Chance diese zu finden. Es sei denn, dass er absolut ortskundig ist, und sich mit Fleißarbeit die einzelnen Standorte eingeprägt hat. Bei solchen Ampeln suche ich nicht mehr lange nach dem Standort, sondern versuche auf den Verkehr zu hören. Das ist zwar Konzentrationsarbeit, erspart mir aber die Suche nach einer Blindenampel, die für blinde Verkehrsteilnehmer nur unter erschwerten Bedingungen auffindbar ist.
Die Ampel auf dem Beitragsfoto ist mein persönlicher Horrortrip. An dieser Kreuzung laufen zwei stark befahrene Straßen zusammen. Mehrere Verkehrsinseln machen das Ganze so richtig spannend. Und auch für den Nervenkitzel ist gesorgt, da hier besagte Vibrationsampeln ohne Bodenindikatoren stehen. Einen Ampelmast auf der Verkehrsinsel zu suchen macht besonders viel Spaß, während man dem Lärm von Bussen, LKWs und dem Autoverkehr aus allen Richtungen lauscht. Da ich es trotz jahrelanger Erfahrung nie geschafft habe mir diese Ampel anhand der Verkehrsführung akustisch zu erschließen, meide ich sie wo immer ich kann.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

10 Antworten auf „Blind eine Straße überqueren“

Hallo Lydia,
wieder sehr gut beschrieben! Solche Horrorkreuzungen kenne ich auch, hier sogar ganz ohne Signalampeln. Die meide ich sehr konsequent, auch, wenn das den verzicht auf mehrere Buslinien und einen manchmal etwas umständlicheren bzw. weiteren Fusweg bedeutet. In meiner Heimatstadt, wo ich auch aufgewachsen bin, gab es lange Zeit keinerlei Signalampeln, weder mit Vibration noch mit Klackern und Piepsen. Ich glaube, erst um das Jahr 2000 wurden solche Ampeln ein bisschen üblicher, aber auch nur an wenigen, wirklich zentralen Punkten. Heute gibt es an den meisten Übergängen noch immer nichts Dergleichen, obwohl wir hier einige echt bescheuerte Ampelschaltungen haben, wo das Hören auf den Verkehr kaum hilft, weil mensch zusätzlich die Sekunden abzählen müsste, die zwischen dem Anhalten der Autos und dem Umspringen der Ampel vergehen – achja, und mensch muss dafür natürlich auch erstmal wissen, wie viele Sekunden das bei jeder einzelnen Ampel eigentlich sind. Oft überquere ich Straßen lieber an Stellen, wo ich übers Gehör wirklich die Verkehrssituation einschätzen kann, was oft nicht die offiziellen Ampeln oder Übergänge sind sondern irgendwelche Stellen dazwischen. Dafür habe ich mir schon böse Rüffel von Mobilitätstrainer*innen eingefangen, aber eine bessere Lösung wussten die auch nicht.
liebe Grüße
Lea

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Liebe Sarah!
Das Problem ist, dass diejenigen, die darüber entscheiden erst mal darauf gestoßen werden müssen. Eben, weil sie das Thema nicht auf dem Schirm haben. Und hier ist es an uns Menschen mit Behinderung aktiv zu werden und sich entsprechend einzubringen.

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Hoffe, dass Sie nach der Begehung – zusammen mit Herrn Hunkel – des neuen Fussgänger Überwegs an der Birkengewann KITA Wilh. Leichum Str. /Am Trieb von ihm einen Lösungsvorschlag zur Beseitigung dortiger Hindernisse zugesichert bekommen haben. Vielen Dank für die Schilderungen in Ihrem Blog!

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Das mit den großen Kreuzungen ist wohl nur etwas für Leute, die schon als Kind erblindet sind. Ich bin mit 21 erblindet und traue mich das mit 45 noch nicht.

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Das hat nichts mit dem Zeitpunkt der Erblindung zu tun, sondern mit jedem Einzelnen, der Mobilität und dem eigenen Zutrauen. Ich kenne geburtsblinde Menschen, die stets mit sehender Begleitung aus dem Haus gehen, und ich kenne spät erblindete Personen, die fast alles alleine machen. Und dazwischen gibt es ganz viel.

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