An das erste halbe Jahr in Deutschland kann ich mich nur sehr lückenhaft erinnern. Ich weiß, dass ich meinen Vater kennenlernte, den ich bisher nur aus Erzählungen kannte. Ich weiß auch, dass wir während dieser Zeit einige Male umgezogen sind, da mein Vater an verschiedenen Orten arbeitete. In dieser Zeit lernten mein ein Jahr jüngerer Bruder, meine Mutter und ich ein bisschen deutsch.
Kurz vor Weihnachten 1972 zogen wir nach Neu-Isenburg, wo mein Vater Arbeit in einer Chemiefabrik gefunden hatte. Für die nächsten Jahre war eine Zweieinhalbzimmerwohnung nebst einer Wohnküche unser Zuhause. Dazu gehörte eine Toilette, die ein Stockwerk tiefer lag als unsere Wohnung, und die wir uns mit mehreren Mietern teilten. Ein Bad gab es nicht. Lediglich eine Spüle in der Küche, Wollte man Baden oder Wäsche waschen, so wurde erst mal Wasser auf dem Gasherd erhitzt und in einen Waschzuber gegossen. Und zur großen Freude meiner Mutter gehörte auch ein kleiner Garten dazu. Mein Bruder und ich hatten zum ersten Mal ein eigenes Kinderzimmer.
Am liebsten mochte ich unsere Küche. Und hier verbrachten wir auch die meiste Zeit. Während meine Mutter kochte, wusch oder anderen Arbeiten nachging, sprach oder sang sie mit uns Kindern. Am Küchentisch wurde gemalt, gebastelt, und später auch Hausaufgaben gemacht. Kamen uns andere Frauen besuchen, so saßen sie ebenfalls mit in der Küche. Es war der Raum, der für mich die meiste Gemütlichkeit ausstrahlte und am besten roch. – Wahrscheinlich liebe ich deshalb Wohnküchen noch immer so sehr, weil ich so schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit damit verbinde.
So langsam lebten wir uns ein und kamen etwas zur Ruhe. Ich lernte, dass ich im Winter Handschuhe und Mütze tragen musste, was ich vorher überhaupt nicht kannte. Und so nach und nach fanden wir Anschluss in der Stadt. Unser Bekanntenkreis bestand zwar größtenteils aus Arabern. Dennoch lernten wir nach und nach immer mehr deutsch. Meine Mutter konnte sich mit etwas englisch und Händen und Füssen verständigen. Aber für mich galt dies nicht. Ich verfügte weder über Englischkenntnisse, noch konnte ich Gesten oder Mimik sehen. Daher war es für mich noch wichtiger so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, weil dies der einzige Weg war mich Menschen, die nicht arabisch sprachen, mitzuteilen. Meine Mutter hat sehr früh erkannt, dass es wichtig ist die deutsche Sprache zu beherrschen. Also haben wir manchmal untereinander versucht deutsch zu sprechen. Und irgendwann habe ich meine Mutter einfach überholt, so dass ich mit sechs Jahren bei Behördengängen in der Lage war zu übersetzen, wenn die Deutschkenntnisse meiner Mutter nicht ausreichten. Sie verstand zwar das meiste, konnte sich jedoch nicht so gut artikulieren wie ich es inzwischen konnte.
Und da meine Mutter ganz offen mit mir über die behördlichen Dinge sprach, lernte ich schnell welche Stelle für was zuständig war. Ich wusste also im zarten Alter von sechs oder sieben Jahren schon, dass Eltern für jedes Kind Kindergeld bekommen, dass das Arbeitsamt für die Arbeit zuständig war, dass das Sozialamt sich um Menschen kümmerte, die nicht genügend Geld hatten und dass wir alle sechs Monate auf das Landratsamt mussten, um unsere Aufenthaltserlaubnis für Deutschland verlängern zu lassen. Das war nötig, um in Deutschland leben zu dürfen. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich etwas besser konnte als der Rest meiner Familie. Diese Tatsache sollte mich bis in das Erwachsenenalter begleiten. Es erfüllte mich sehr oft mit Stolz, dass ich Briefe, Beschwerden oder sonstige Korrespondenz für meine Familie führen durfte.