Heute freue ich mich ganz besonders darüber eine junge Gastautorin zu haben. Melis, die schon mal den Beitrag „malen mit Braille“ bei mir geschrieben hat, ist blinde Schülerin an einer Regelschule.
Meine Erfahrungen, als Vollblinde auf einer Regelschule
Mein Name ist Melis und ich bin 14 Jahre alt. Ich bin vollblind, außer hell und dunkel und Umrissen erkenne ich nichts.
Mein größtes Hobby ist das Lesen und Hören von Hörbüchern und Hörspielen. Außerdem schreibe ich sehr gerne eigene Texte.
In diesem Beitrag möchte ich erzählen, wie ich, als vollblinde Person, an einer Regelschule lerne und auch einige Tips geben, die es euch einfacher machen, falls ihr auf eine Regelschule wollt.
Bevor ich anfange zu erzählen, möchte ich zum besseren Verständnis kurz etwas zu meinen Hilfsmitteln sagen, die ich nutze.
Im Unterricht nutze ich einen Laptop mit Screenreader und eine Braillezeile. Außerdem besitze ich einen Blindenstock.
Nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!
Laut, chaotisch, riesige Klassen, so war meine Vorstellung einer Regelschule. Diese Vorstellung machte mir Angst, sodass ich lange auf eine Blindenschule gegangen bin.
Seit fast einem Schuljahr besuche ich nun eine Regelschule und das kann ich vorwegnehmen, so schlimm ist es definitiv nicht.
Inklusion wird hier großgeschrieben
Diese Schule hat eine Besonderheit. Sie hat den Schwerpunkt Inklusion. Ungefähr 40 Schüler mit Beeinträchtigung besuchen das Gymnasium. Hauptsächlich gehören dazu Hörgeschädigte und Gehbehinderte.
Die Schule verfügt über den KBI (Kompetenzbereich Inklusion). Dort schreibe ich meine Arbeiten, bei denen ich auch Zeitverlängerung kriege. Aber dazu später mehr.
Meine Klasse
In meiner Klasse sind mit mir 23 Schüler. In der Klasse fühle ich mich wohl. Die anderen behandeln mich ganz normal und nicht als wäre ich besonders. Gerade von meinen Freundinnen bekomme ich viel Hilfe, aber auch dazu später mehr.
Der Klassenraum liegt im 3. Stock, indem keine anderen Klassen liegen, sondern nur Fachräume. Das wurde speziell für mich so ausgesucht. Das ist auch sehr gut, da es nicht laut und hektisch auf dem Flur zugeht. Die Wand der Klasse ist schallgedämpft, so ist die Akustik in der Klasse sehr gut. Eigentlich ist dies für Hörgeschädigte Schüler gedacht. Da ich mich allein auf mein Gehör konzentrieren muss, hilft es mir aber auch sehr.
Meine I-Helferin
Unterstützung erhalte ich von meiner I-Helferin (Integrationshelferin). Sie hat keine spezielle Ausbildung und deswegen auch keine Erfahrung mit Sehbehinderten. Das versucht sie, aber sehr engagiert aufzuarbeiten und wird immer besser. Sie diktiert mir von der Tafel, hilft mir von Raum zu Raum, erklärt mir spezielle Abbildungen, Landkarten etc. und überträgt Arbeitsblätter. Aber, welch Überraschung zur letzterem später mehr.
Ganz wichtig ist mir zu sagen, dass sie nicht an mir klebt. In der Pause lässt sie mich mit meinen Freundinnen in Ruhe (Ist ja auch ihre Pause). Wir sind inzwischen ein Gutes Team geworden und sprechen uns ab wann ich, wo Hilfe brauche. Außerdem kriege ich nicht nur von ihr Hilfe. Auch meine Freundinnen nehmen mich oft in die Pausen oder andere Räume mit.
Am Anfang einer Unterrichtsstunde spricht sie mit dem Lehrer ab, ob sie, für die eben genannten Dinge, gebraucht wird. Falls ja, setzt sie sich nach hinten und kommt dann zu mir, wenn die Hilfe benötigt wird. Falls nicht, geht sie und bereitet Sachen für mich vor.
Meine Förderlehrerin
Außerdem werde ich von einer Förderlehrerin aus der Blindenschule unterstützt. Sie kommt im Gegensatz zu meiner I-Kraft nur 12 Stunden in der Woche und hilft mir in den Fächern, in denen ich mehr Unterstützung brauche, wie beispielsweise Mathe, Physik und Geschichte. Gerade in diesen Fächern wird viel mit Bildmaterial gearbeitet. Das bereitet sie speziell auf und erarbeitet es mit mir. Auch wenn ich Fragen zu meinem Laptop oder der Braillezeile habe, wende ich mich an sie. Auch ist sie fürs Übertragen zuständig.
Schulbücher und Arbeitsblätter
Wie oben bereits erwähnt, benutze ich einen Laptop mit Screenreader und Braillezeile. Darauf kann ich Lesen und Schreiben. Deswegen habe ich die Schulbücher als Worddokumente auf meinem Laptop.
Die Arbeitsblätter müssen speziell übertragen werden, damit ich sie lesen kann. Viele Lehrer haben sich darein gefuchst und machen das selbst. Diejenigen, die es sich nicht zutrauen, scannen die Arbeitsblätter ein und schicken diese an meine Förderlehrerin, die sie dann überträgt.
Bilder, Landkarten, Experimente
Gerade in Fächern wie Mathe, Geschichte und Physik wird viel mit Bildern und Landkarten gearbeitet. Wenn wir mit einem Bild oder Experiment nicht lange arbeiten, kriege ich es von meinen Mitschülern beschrieben. Ist das Bild so nicht gut erfassbar, wird es für mich taktil aufbereitet. Entweder auf einem speziellen Schwellpapier gezeichnet, dann kann ich es fühlen oder es wird aus verschiedenen Materialien gebastelt.
Zu vielen Sachen gibt es auch Modelle, wie zum menschlichen Körper oder Tieren.
Landkarten gibt es auch in taktiler Form.
Sportunterricht
Der Sportunterricht ist tatsächlich sehr schwer für mich mitzumachen, da viele Ballspiele gespielt werden und es viel auf Schnelligkeit, Reaktionsfähigkeit und Perfektion ankommt. Damit ich besser mitmachen kann, werde ich von einer Physiotherapeutin unterstützt. Sie überlegt sich dann zusammen mit meinem Sportlehrer, wie ich die Übungen auch mitmachen kann und hilft mir dann bei der Umsetzung. Oftmals kann ich allerdings trotzdem nicht mitmachen. In diesen Stunden erarbeite ich dann mit meiner Förderlehrerin Sachen, für die ich als Sehbehinderte mehr Zeit brauche. Dazu gehören Landkarten, Abbildungen etc.
Kunstunterricht
Auch der Kunstunterricht ist nicht einfach mitzuarbeiten, da hauptsächlich gezeichnet wird. Das Zeichnen erledige ich mit einem Zeichenbrett, auf das eine Folie gespannt wird und dann mit einem Kugelschreiber drübergefahren, so entstehen fühlbare Linien. Natürlich kann ich damit nicht genau so gut zeichnen, wie meine sehenden Klassenkameraden. Mir fehlt die Vorstellung von vielem und auch auf kleine Details kann ich schwer achten. Deswegen arbeite ich auch viel mit Knete oder bastele etwas.
Meiner Kunstlehrerin ist klar, dass ein gezeichneter oder gekneteter Löwe von einem Blinden nicht genau so aussehen kann, wie er wirklich aussieht. Schließlich kann ich einen Löwen nicht einfach anfassen.
Der Nachteilsausgleich
Trotz all dieser Hilfsmittel und der Unterstützung, habe ich natürlich einen Nachteil meinen anderen Mitschülern gegenüber. Deswegen habe ich den sogenannten Nachteilsausgleich.
Der besteht im einen aus Zeitverlängerung, die ich bei Arbeiten und Tests bekomme. Ist das Gerecht, fragen mich viele? Und ich antworte dann immer, auf jeden Fall.
Mit der Braillezeile brauche ich einfach länger zum Lesen, da ich immer nur eine Zeile auf einmal lesen kann und immer hoch und runter schallten muss. Das kostet einfach unfassbar viel Zeit.
Der zweite Teil des Nachteilsausgleiches bekomme ich in Sport und Kunst. Ich habe bereits erzählt, dass ich dort mehr Schwierigkeiten habe. Damit mir dies nicht zum Verhängnis wird, wird hier meine Note entsprechend angepasst.
Diese Arbeiten schreibe ich dann im KBI. Dort habe ich mehr Ruhe und meine I-Helferin kann mir auch längere Texte vorlesen.
Mein Fazit zur Regelschule
Alles in allem komme ich gut im Unterricht klar. Natürlich habe ich den Vorteil, dass sich meine Schule mit Inklusion gut auskennt und die Lehrer deswegen offen sind.
Natürlich gibt es oft auch Schwierigkeiten. Nicht immer habe ich das Material vorliegen und wir müssen improvisieren. Das kann teilweise sehr anstrengend sein. Trotzdem fühle ich mich sehr wohl.
Tipps für Sehbehinderte Schüler, die auf eine Regelschule möchten
Falls ihr gerade die Überlegung habt, auf eine Regelschule zu gehen, habe ich hier zwei nützliche Tipps, die euch den Anfang erleichtern.
1. Meldet euch früh genug an
Damit der Start reibungslos funktioniert, ist super wichtig, dass ihr euch früh genug anmeldet. Dann können eine I-Helferin, Förderlehrerin, Schulbücher und vieles mehr früh genug organisiert werden.
2. Habt Geduld mit allem
Seit geduldig mit euren Lehrern und Mitschülern. Sie kennen sich wahrscheinlich mit deiner Sehbehinderung nicht aus und werden viel fragen. Versuch dann nicht genervt zu reagieren. Natürlich ist es nicht angenehm immer ausgefragt zu werden, aber viele Menschen haben einfach keine Ahnung von unserer Behinderung und sind deswegen neugierig. Das ist ja jeder Sehbehinderte zu genüge gewohnt. Außerdem legt sich das ziemlich schnell und alle haben fast vergessen, dass du sehbehindert bist.
Auch wenn es im einen oder anderen Fach wegen deiner Sehbehinderung nicht direkt super funktioniert, stress dich nicht, auch das legt sich. Es muss sich halt alles einspielen.
Und vergiss nie, es ist nur Schule, also mach dir selber keinen Druck!!!
So dass war’s mit meinem Beitrag. Ich hoffe er hat euch gefallen und ich konnte euch ein bisschen in meinen Schulalltag mitnehmen.
Vielen Dank Melis, dass Du Deine Erfahrungen mit uns teilst.
Ich lade Euch zu einem Meinungsaustausch in den Kommentaren ein.
5 Antworten auf „Blind an einer Regelschule – eine Schülerin erzählt“
Wow, das hört sich traumhaft an, wenn ich es mit dem vergleiche, was ich vor 30 Jahren als Integrationsschülerin (Inklusion war noch nicht erfunden) erlebt habe. In meinem Blog gibts dazu unter dem Schlagwort Inklusion ein paar Artikel. Du profitierst auf jeden Fall von der Gnade der späten Geburt und offensichtlich auch von einer toll ausgestatteten und sensibilisierten Schule. Ich wnsche Dir, sehr, dass es weiter so gut läuft!
liebe Grüße und alles Gute
Lea
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Ja, auch vor ungefähr zehn Jahren war es noch nicht soweit. Wie ich unten bereits geschrieben habe, hatte ich als ebenfalls blinde Schülerin damals, große Probleme. Auch wenn es nicht immer ersichtlich ist, es scheint voran zu gehen und das freut mich zu lesen.
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Du hast einen klaren Stil, organisierst deinen Text so, dass jeder ihn leicht verstehen kann, und gibst hilfreiche Tipps. Tatsächlich ist es für eine nicht Sehbehinderte wie mich schwer, sich hineinzuversetzen in die Situation einer Sehbehinderten. Wir fragen oft nach, nicht so sehr aus Neugierde (das auch), vor allem aber aus Hilflosigkeit. Wir möchten ja gern helfen, wo es gebraucht wird, wissen aber nicht, WO es gebraucht wird und WIE. Da könntet ihr uns Nichtsehbehinderten schon auch mal eine richtige Einführung geben. Ich glaube, du könntest das sehr gut.
Ich bin alt und hörbehindert, das ist auch nicht einfach, weil die Umwelt es nicht sieht und nicht begreift, dass ich leide, wenn ich blöd dabei sitzen muss, ohne etwas zu verstehen, weil alle durcheinander reden. Und wenn ich dann auch mal was sage, ist es das Falsche, weil ich nicht richtig verstanden habe, worum es ging. Ich würde meinen Mitmenschen gern mal ein paar Tipps geben, worauf sie achten sollten, wenn sie mit hörbehinderten Menschen zu tun haben. Vielleicht fragst du inder Schule mal nach, ob du einen Vortrag zur Sehbehinderung halten kannst, und was du brauchst und was du nicht brauchst.
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Hallo
Ich finde deinen Beitrag sehr schön geschrieben. Es freut mich sehr zu lesen, dass es bei dir so gut in der Schule funktioniert. 😊
Ich bin selbst blind, war lange Zeit auf einer Blindenschule, später dann besuchte ich eine Gesamtschule, in der ich die einzige Person mit Behinderung war. Ich kann ebenfalls nur hell und dunkel und Schatten wahrnehmen. Bei mir funktionierte es leider nicht gut. Was das organisatorische betrifft, war es ähnlich wie bei dir. Doch was die Mitschüler betrifft, hatte ich große Probleme, da ich meist wie ein rohes Ei behandelt wurde und keine Freundschaften knüpfen konnte. Ich bin nicht der Mensch, der sich schwer tut, Anschluss zu gewinnen. Doch an dieser Schule hatte ich auch nach über einem Jahr keinen Anschluss gefunden. Es gab Menschen, mit denen ich mich verstand und hin und wieder auch austauschte, doch es war überwiegend die Neugierde, wie ein Blinder das alles macht. Ich erklärte, doch dennoch wurde ich immer mit großer Vorsicht behandelt. Auch gab es Schüler, die meine Noten nicht gerechtfertigt fanden, ich würde ja bevorzugt werden, weil ich blind bin.
Viele Lehrer waren sehr freundlich, doch es gab auch Lehrer, die nicht vorlesen wollten, was sie an die Tafel geschrieben haben. Bei mir hat das nicht mein I-Helfer übernommen, er hat lediglich die Sachen gescannt und bearbeitet. Aber es war auch keine inklusive Schule in diesem Sinne, vielleicht spielt das auch eine Rolle, dass die Mitschüler da offener sind. Und was ich erzähle, liegt fast zehn Jahre zurück, vielleicht sind die Menschen mittlerweile auch etwas offener.
Mach weiter so, ich freue mich für dich! 🙂
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Ja, diese Behandlung wie ein rohes Ei und der Vorwurf der Bevorzugung kommen mir sehr bekannt vor. Ich war, wie Du, die einzige Person mit Behinderung, dazu auch noch die erste jemals an dieser Schule. Die Lehrer*innen waren überwiegend überengagiert, was die Mitschüler*innen dann halt zu dem Schluss brachte, ich sei ihr absolutes Lieblingskind, was dann widerum in massivem Mobbing mündete. Organisatorisch lief es überwiegend gut, aber sozial war ich immer komplett außen vor, bis weit in die Oberstufe hinein, wo der Klassenverband ja längst aufgelöst und die Mobber*innen längst nicht mehr in meinem engeren Umfeld waren. Ich hoffe so sehr, dass all diese Dinge heute der Vergangenheit angehören, weil es einfach normaler geworden ist, unterschiedlich zu sein. Eigentlich war ich immer dankbar dafür, nie eine Sonderschule von innen erlebt zu haben, aber inzwischen denke ich oft, dass ich schon auch einiges verpasst habe, weil ich als Kind und Jugendliche nie die Erfahrung machen konnte, irgendwo mal dazuzugehören.
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