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Busstreik – Blinde bleiben auf der Strecke

Wenn der Nahverkehr streikt, sind Menschen mit Sehbehinderung in irrer Lebensführung stark betroffen. Warum? Das erklärt mein Gastautor anschaulich.

Als im vergangenen Monat die Busfahrer streikten, habe ich immer wieder feststellen müssen, dass kaum etwas über die Situation von Menschen mit Behinderung, speziell mit Sehbehinderung zu lesen war. Gerade auf Facebook musste ich mir von Streikbefürwortern anhören, dass ich mich doch solidarisch mit den Busfahrern zu zeigen habe. Nun, es geht hier nicht allein um mich, sondern um die Menschen, die ihre feste Strecke laufen, die für sie erst mal alternativlos ist. Vielleicht könnten die Streikverantwortlichen mal an eine Lösung für diesen Personenkreis arbeiten.

Mein Gastautor Wilhelm Gerike hat mir pünktlich zum Jahresende einen Gastbeitrag zu diesem Thema geschrieben.

Streiks kann ich nicht leiden

„Es ist 6:30 Uhr“, weckt mich mein Lieblingsradiosender, „heute wird gestreikt“. Und das betrifft nicht etwa das Finanzamt, sondern die Busse, mit denen ich täglich fahre. So gilt es, möglichst schnell einen fahrbaren Untersatz zur Arbeit zu organisieren. Bei den Taxizentralen komme ich entweder gar nicht durch oder mir wird gesagt, dass man bis etwa 9:30 Uhr keinen Wagen bekommt. Also erst einmal auf der Arbeit anrufen: Hallo, ich komme heute streikbedingt etwas später, tut mir Leid. Kurz bevor ich mir überlege, ob ich nicht doch einmal einen Krimi schreibe, in dem ich den Rädelsführern die zehn grausamsten Todesarten angedeihen lasse, klingelt das Telefon. „Wie kommst Du denn heute zur Arbeit?“ fragt mich meine gut gelaunte Bekannte. „Ich gehe runter in den Keller und packe den fliegenden Teppich aus“, kommt es von mir lakonisch zurück. „Nun komm mal runter, wir nehmen Dich mit.“ Mir fällt eine Geröllhalde vom Herzen und ich komme doch noch einigermaßen pünktlich bei der Arbeit an.
Der Rückweg lässt sich etwas unaufgeregter organisieren: Ich kann rechtzeitig ein Taxi vorbestellen. Und morgen sollen die Busse ja wieder fahren, sagt mein Lieblingsradiosender.
Was sich hier anhört, wie eine Kabarettklamotte, ist in Wahrheit ziemlich bitter: Am Tag nach dem Warnstreik liest man viel von Schülerinnen und Schülern in der Zeitung, die sich zum Teil über Kilometer mit dem schweren Schulranzen auf dem Rücken durch den Regen in die Schule quälten. Von mir und meinesgleichen – blind und Arbeitnehmer – liest man hingegen nichts. Ich kann mich nicht irgendwo hinstellen und den Daumen raushalten. Während des letzten längeren Streiks der Busfahrer nahm mich ein Kumpel mit dem Taxi mit. Dadurch war ich zwar viel zu früh bei der Arbeit, hatte aber keinen größeren Stress.
Meine Frau (hochgradig sehbehindert) erzählt vom großen Streik 1992, als rund vier Wochen nicht nur Bahnen und Busse, sondern auch die Müllwagen stehen blieben. „Ich habe mir damals ein großes Schild gemalt, dass ich zur Uni fahren will. Außerdem haben viele Autofahrer einen roten Punkt an der Windschutzscheibe gehabt. Der sollte anzeigen, dass sie Leute mitnehmen.“ Dieser Streik war für mich in erster Linie teuer. Doch das Blindengeld ließ mich eher weich fallen. Wer so eine Unterstützung nicht hat, ist ein echter Verlierer solcher Streikmaßnahmen.
Der Streik ist ein grundgesetzlich geschütztes Recht der Arbeitnehmer, Ihre Interessen gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Das musste auch die Deutsche Bahn erfahren, als sie versuchte, die Streiks der Lokführergewerkschaft zu verbieten. Trotz einer miserablen Pressearbeit gelang es den Lokführern, zwischen Herbst 2014 bis Ende 2015 die Sympathie der meisten befragten Bundesbürger auf ihre Seite zu ziehen. Ich bekenne, dass ich nicht zur großen Mehrheit gehörte: Für mich sind solche Streikmaßnahmen ein massiver Eingriff in meine Lebensführung. Ich habe nicht die Alternative, für eine Strecke von A nach B ein Auto zu benutzen.
Ich träume davon, einmal auf einer Streikversammlung das Mikrofon in die Hand zu nehmen. Folgendes würde ich den Streikenden gern sagen: „Kolleginnen und Kollegen, wir blinden und sehbehinderten stehen unverbrüchlich hinter Euren Forderungen. Doch leider fahren Eure Arbeitgeber geschlossen mit dem Auto, sind also vom Streik persönlich nicht betroffen. Dagegen erwischt es unsereins richtig hart. Soll denn die Hochzeit meiner besten Schulfreundin wirklich ohne mich stattfinden, obwohl ich Trauzeuge bin? Wie kann ich zum nächsten Supermarkt kommen, ohne dass der Bus fährt, auf Wegen, die ich nicht kenne? Überlegt Euch doch einmal, in Wellen zu streiken, getreu dem Motto heute hier, morgen dort. Ein Dichter hat mal gesagt: Auch kleine Nadelstiche tun auf die Dauer weh.“

Ich danke Willi für seine offenen Worte. Er hat bereits die Beiträge blind Fernsehen oder ins Kino gehen und Geräuschumgebung, zu laut oder zu leise für mich geschrieben.

Jetzt freue ich mich über einen guten Meinungsaustausch in den Kommentaren.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

13 Antworten auf „Busstreik – Blinde bleiben auf der Strecke“

Klar! Es trifft #BlinderMensch härter als #Sehfisch, weil ungewohnte Wege schwierig sind und das Fahrrad als Alternative meist nicht zur Verfügung steht. Aber hier wird das Recht auf Bequemlichkeit gegen das Recht auf Streik aufgewogen und da spiele ich persönlich nicht mit.
Sheetstorm bitte an @YetiFloridsdorf

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Das Streikrecht gilt für Alle, mit seinen Folgen für Alle.
Wenn z.B. im ÖPNV gestreikt wird, betrifft das alle Nutzende. Oft wird das vorher angekünigt. Ob ich das wahr nehme, ist meine Sache. Ja, ich sehe und habe einen Führerschein, aber kein Auto. Normalerweise radel ich, natürlich ist das für Dich keine Alternative. Vor ein paar Jahren fiel das dank einer Knieverletzung aus und die Öffis streikten, da hatte ich ein ähnliches Problem. Ich kannte zwar den Fußweg, konnte ihn nicht in Gänze gehen und fand einen Plan B.
Für mich ist das eine Frage der Selbstfürsorge für Alle.

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So, und was ist mit den Menschen, die eben keinen Plan B haben? Die kein soziales Umfeld haben, dass ihnen hilft? Blinde Eltern, die sich über einen längeren Zeitraum überlegen müssen wie sie oder ihr Nachwuchs zurecht kommt? Wäre es da nicht schön von den Verantwortlichen gemeinsam nach Lösungen zu suchen, damit dieser Personenkreis nicht noch härter getroffen wird? Blinde Arbeitnehmer zahlen ebenfalls Beiträge an die Gewerkschaften.

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Natürlich haben alle Arbeitnehmerinnen ein Streikrecht. Ich habe keine Ahnung, was Du arbeitest. Hast Du mal bedacht, was es für Alle bedeuten könnte, wenn Du streikst?

Kannst Du Dir vorstellen, das alle Eltern, die ihre Kinder mit Öffis in die Kita bringen, das gleiche Problem haben?

Eine Freundin macht das täglich mit ihren Zwillingen, bevor sie mit dem Rad zur Arbeit fährt. Sie verdient wenig über dem Mindestlohn.

Wenn ich an einem solchen Streiktag, wenn ich zur Arbeit will und merke, es fahren keine Busse, lande ich auch in der Taxiwarteschlange.

Ich bitte Dich um eine sachliche Begründung, warum , blinde Menschen, anders als alle Anderen nicht von einem Streik betroffen sein sollen.
In Deutschland gibt es anders als in Frankreich, in dem es den Genaralstreik gibt, nur Streiks in Tarifauseinandersetzungen.
Ich erinnere mich an diverse Streiks der Post.
Würdest Du auch dafür plädieren, das bei einem Streik der Post, der ja auch Alle betrifft, die Hörbücher aus Marburg für sehbehinderte Menschen trotzdem befördert werden?
Würdest Du dafür plädieren, das wenn in den herkömmlichen Bibliotheken gestreikt wird Alle dort bestellen dürfen?

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Viele Menschen bekommen ihre Sehbehinderung nicht von Geburt an, sondern erst später. Sie bekommen Schulungen in Orientierung, und lernen ihre Wegstrecken auswendig. Sie lernen den Weg zur Bushaltestelle, fahren mit dem Bus XY zu einer bestimmten Haltestelle, um dann entweder an einer bestimmten Haltestelle umzusteigen oder zu ihrem Ziel zu laufen. Für Menschen, die nicht alles fußläufig erreichbar haben, ist das ein riesen Schritt all das mit möglist wenig Hilfe hinzukriegen. So, und dann fällt die Komponente Bus weg. Fahrrad oder eigener PKW sind keine Alternative, laufen auch nicht, weil man den Weg alleine zu Fuß nicht findet. Taxi für die ein oder andere Fahrt geht auch noch irgendwie. Wenn Du aber 2 Wochen Streik hast, wird es eng. Kurz, mit eingeschränkter Mobilität wirst Du wieder zum Bittsteller oder findest Dich mit Hausarrest ab.
Ich bin nicht gegen Streikmaßnahmen, ich möchte nur erreichen, dass auch die Situation von sehbehinderten Menschen den Verantwortlichen bewußt gemacht wird. Was wäre, wenn es einen durch die Gewerkschaften ermöglichten Begleitdienst gäbe, der in solchen Situation greift? Zugegeben, es handelt sich hier um einen überschaubaren Personenkreis. Dennoch sollte er nicht übersehen werden.

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Streiks sind einfach unheimlich wichtig für unsere gesamte Gesellschaft, damit es überhaupt okaye Arbeitsbedingungen gibt. Unsere jetzigen Arbeitsgesetze sind ja auch nicht einfach so vom Himmel gefallen.

Das Problem sehe ich eher darin, dass bei uns 1. die allermeisten Menschen alleine mit dem Auto zur Arbeit fahren, sodass wenig Verständnis für Leute besteht, die auf andere Transportmittel angewiesen sind (das ist außerdem auch umwelttechnisch katastrophal und wird sich zwangsläufig ändern müssen), und 2. man als Arbeitnehmerin verpflichtet ist, am Arbeitsplatz präsent zu sein, selbst wenn man gar nicht die Möglichkeit dazu hat. Weiß nicht – vielleicht wäre es sinnvoll, wenn es eine staatliche Ausgleichszahlung an Firmen gäbe, wenn deren Mitarbeiter:innen wegen so eines Busstreiks nicht zur Arbeit kommen können. Oder sowas Ähnliches. Und 3. müsste man bei einem langen Streik (was ja in Deutschland aber recht selten ist) versuchen, Alternativen zu organisieren, wobei dann aber wieder die Solidarität der Autofahrer:innen mit den Busfahrer:innen nötig ist.
Ja, gar nicht so einfach, aber ich denke, Lösungen sind möglich.

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Es ist sehr wichtig auch diese Perspektive zu betrachten! Leider geht es bei einem Streik natürlich genau darum, dass es weh tut, damit klar wird, wie essentiell die Arbeit von Bus- und Bahnfahrern ist. Je tiefgreifender die Beeinträchtigung, desto besser für die Streikenden, weil so mehr Druck auf die Arbeitgeber gemacht wird… Ich habe mich auch immer sehr benachteiligt gefühlt, weil ich nicht Auto fahre und eine Strecke von Bonn nach Köln beispielsweise mit dem Fahrrad auch nicht realistisch (für mich) gewesen wäre. Aber für Blinde sind Streiks tatsächlich nochmal viel einschneidender. Danke für diesen Gastartikel.

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Das wir Streiken dürfen ist sehr wichtig!
Ihr müsst euch nur einmal überlegen wofür die Busfahrer usw. eigentlich Streiken, die machen das ja nicht um einen Tag frei zu haben.
Nein Sie Streiken dafür, dass auch sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Auch wir Blinden und Sehbehinderten haben in der Vergangenheit mehrfach gestreikt und werden sicher auch in Zukunft häufiger Streiken müssen. Das beste und im Beitrag angesprochene Thema Blinden /Sehbehinderten Geld hat schon viele von uns zum Streiken gebracht, klar hier wurden keine Busse usw. vom Fahren abgehalten, jedoch werden wir durch unsere Streiks sicher den einen oder anderen gestört haben.
Ach und als hier in München vergangenes Jahr die MVG-Fahrer gestreikt hatten, wurde dies bereits mehrere Tage zuvor im Radio angekündigt, wodurch ich rechtzeitig ein Taxi buchen konnte.
Weiterhin hatte ich anschließend meine Taxirechnung mit entsprechender Begründung an die zum Streik aufgerufene Gewerkschaft geschickt und habe nur wenige Tage später mein Geld zurückbekommen.

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Ich freue mich über die letzten Kommentare, als Beiträge zu einer Diskussion, die Du Lydia, Dir gewünscht.
Was Du in Deinem letzten Kommentar geschrieben, ist mir nicht neu.
Entbindet das von der Selbstverantwortung, mehr als einen Weg kennen zu lernen, un von A nach B zu kommen?
Ich verstehe noch nicht, warum Du bei einem Öffi-Streik nur die Folgen für Blinde siehst. Hast Du schon mal darüber nachgedacht, was das für nandere Menschen bedeutet? Vielleicht für Menschen mit Geheinschränkungen?
Wilhelm Gerike wies als Gastautor auch darauf hin, das ihm sein Blindengeld auch ein Puffer für unerwartete Taxiausgaben ist.
Die Nachbarin, die mit ihrem Rollator mit Öffis zur Arbeit fährt, hat keinen solchen Puffer.

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Ich habe nie behauptet, dass Menschen mit einer Gehbehinderung nicht betroffen sind.
Sicher liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen alternative Wege zu lernen. Nur braucht dies Zeit und setzt eine Mobilität vorraus, über die gerade später eblindete Menschen noch nicht verfügen.
Ich bin kein Streikgegner. Ich möchte nur gern auf die Schwierigkeiten hinweisen, die Menschen mit einer Sehbehinderung haben, wenn wie bei uns über mehrere Wochen gestreikt wird.

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Zu diesem Artikel habe ich zwei Gedanken: Zum einen gehören die Worte, die Herr Gerike gern in der Streikversammlung sagen möchte, an die Leitung des bestreikten Unternehmens gerichtet. Zum anderen wundere ich mich immer über das Einfordern solcher Sonderrechte, wenn wir Behinderten doch die Gleichberechtigung fordern. Beides gleichzeitig wirkt unglaubwürdig.

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