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Vielfingerigkeit, ein medizinisches oder doch ein gesellschaftliches Problem

Mein heutiger Gastautor ist André Rabe, den ich schon sehr lange kenne. Er hat sich ein Thema ausgesucht, das so gar nichts mit Blindheit zu tun hat.

Am 18.11.2019 sah ich einen Bericht in der Sendung „Volle Kanne“ zum Thema Polydaktylie (= Vielfingrigkeit). In diesem Beitrag wurde von einem Baby berichtet, das mit einem zweiten Daumen geboren wurde. Dies wurde zwei Jahre „beobachtet“ und am Ende hat man sich entschlossen den zweiten Daumen zu entfernen. Obschon im Artikel der Eindruck entstand, dass der sechste Finger kaum bis gar nicht störte.
Das hat mir zu denken gegeben. Welche Kriterien werden in diesem und anderen ähnlichen Fällen in die Überlegungen einbezogen? Und aus welchem Blickwinkel wird dies Phänomen betrachtet.
Nach ein paar Tagen habe ich mich im Netzt zunächst mit dem Begriff der Vielfingrigkeit oder Polydaktylie beschäftigt. Aber auch beim Lesen der Artikel beschlich mich ein komisches Gefühl der Unzufriedenheit, denn ich gewann den Eindruck, dass diese Andersartigkeit in der Regel negativ beschrieben wird. Und ich habe den Eindruck, dass dies den Blick trübt, da eben schon die Artikel Worte wählen, die nahe legen, dass man diese Auswüchse unbedingt vermeiden müsse.
Denn in der Regel las ich im Zusammenhang mit diesem Phänomen von Fehlbildung, Anomalie, überzählig, krankhaft … und dergleichen.
Wenn ich dann wieder an den Bericht auf „Volle Kanne „denke wird mein Unbehagen noch größer. Denn in den etwa 2 Jahren, in denen das Kind mit dem sechsten Finger lebte wurde unter anderem erwähnt, dass sie beim Greifen keine Schwierigkeiten habe. Das einzige Problem, wenn man es denn so nennen will, war, dass der zweite Daumen mal beim Anziehen sich im Pullover verhakte. Das ist mir allerdings auch schon mit eigenen Fingern oder Zehen passiert, aber deswegen käme ich nicht auf die Idee, dass der betreffende Finger oder Zeh irgendwie überflüssig sei.
Und nun frage ich mich allen Ernstes, ob es in den meisten Fällen, in denen diese Andersartigkeit „korrigiert“ wird wirklich sein muss? Sicher, eine Besonderheit kann im Kindergarten, in der Schule oder auch später Probleme im Umgang mit anderen bringen. Aber wenn ich daran denke, wie leicht Menschen zur Zielscheibe von Spott und ähnlichem werden können, ob diese Überlegung nicht zu kurz gedacht ist? Könnte man sich nicht vorstellen, wenn man die sog. „Fehlbildung“ zulassen würde, dass diese Andersartigkeit dann doch so oft in Erscheinung tritt, dass sie zwar auffällt, aber nicht gleich als „abnorm“ gesehen wird? Wäre es nicht auch möglich oder sogar sinnvoll, wenn man den Kindern, die eine Polydaktylie haben hilft ihre zusätzlichen Finger anzunehmen und vielleicht sogar nutzbringend einzusetzen?

Ich kenne leider niemanden mit einer Polydaktylie, weder jemanden, der eine korrigierte hat noch jemanden der mehr Finger oder Zehen hat als üblich. So kann ich niemanden Fragen, der diese Andersartigkeit hat. Aber ich möchte gerne mal hören, was da draußen über dieses Thema denkt. Zumal es ja nur eines von vielen ähnlich gelagerten Themen ist.

Der Bericht ist in der ZDF Mediathek zu finden.
Autor:
André Rabe ist 47 und lebt in Hamburg. Ein Besuch in seinem virtuellen Zuhause lohnt sich immer wieder.

Er und ich freuen uns auf eine rege Diskussion in den Kommentaren.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

5 Antworten auf „Vielfingerigkeit, ein medizinisches oder doch ein gesellschaftliches Problem“

Polydaktylie gibt es auch bei Tieren, hier kenne ich das Phänomen vor allem bei Katzen. Insbesondere Rassen wie die Maine Coon sind aufgrund ihrer Gene besonders oft betroffen. Man nennt diese Tiere auch Schiffskatzen. Tatsächlich wird es bei Katzen als normale Mutation der Gene angesehen und in einem Fall wird der sogenannte Hemingway-Mutant auch bewusst weiter vererbt: Auf Key West leben die Nachfahren von Hemingways Katze(n), die zu einem großen Teil von Polydaktylie betroffen sind. Es stört hier niemanden, erst recht nicht die Katzen. Und niemand käme auf die Idee, die zusätzlichen Zehen zu amputieren. Bei Menschen spielt aber sicher der Drang zur Anpassung, zur Gleichförmigkeit, zur „Normalität“ eine Rolle.

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Ja, darüber hatte ich während der Recherche auch gelesen. Nur frage ich mich im Fall des Menschen, wer definiert denn was normal ist. Wenn man nicht so viel Kraft darauf verwendet hätte, diese sog. Anomalie zu beseitigen, wie weit wäre die Mutation heute verbreitet?

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Das ist ja fast schon eine philosophische Frage. Eigentlich interessant vom Ansatz her. Aber der Mensch tendiert ja dazu, alles zu fürchten, was er nicht kennt und was aus der Norm fällt. Vielleicht wären wir durch solche Mutationen schon viel weiter entwickelt und wir wehren uns nur dagegen?

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Unser Sohn wurde mit einer Verwachsung an beiden Händen von Ring- und Mittelfinger geboren (Syndaktylie), was bei Menschen mit Trisomie-21 häufiger vorkommt. Diese Verwachsung gilt als „Fehlbildung“/“Anomalie“/“Krankheit“ und allerseits wurde dringend angeraten, diese Verwachsung im 2. Lebensjahr „operativ zu korrigieren“ (Narkose, danach Gips/Ruhigstellung, …). Inzwischen ist unser Sohn Mitte 20 Jahre alt, lebt unverändert bestens mit seinen zusammengewachsenen Fingern, die gerade viel Neugier bei Kindern auslösen: („Sind die zusammengeklebt?“). Die Syndaktylie ist ein Teil von ihm, keine Krankheit, nichts, was operiert werden müsste. Manche Operationen erscheinen mir auch mehr „Normierungen“ zu sein und weniger/manchmal gar nicht medizinisch notwendig zum Erhalt oder Wiedererlangen von Gesundheit.
LG, MDS

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