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Hilfe gern – doch mit Verstand

Blinden Menschen im Straßenverkehr helfen, ohne diese in Gefahr zu bringen. So geht es richtig.

Frankfurt Main, Südbahnhof. Ich steige aus dem Bus aus und orientiere mich. Dann laufe ich auf die Rolltreppe in Richtung U-Bahn zu, deren Geräusch ich hören kann. Mit dem Blindenstock kontrolliere ich, ob die tatsächlich nach unten fährt, und stelle einen Fuß auf die Treppe. Bevor ich den zweiten Fuß nachziehen kann, werde ich über das rechte Treppengeländer hinweg mit einem festen Griff am rechten Oberarm festgehalten. Autsch, das tut erst mal richtig weh. Und so schreie ich erst mal ganz laut Hey, und ziehe den Arm weg. Dann folgt die Rechtfertigung „Ich mache das für Dich!“. Ich versuche ihm zu erklären, dass er mich total erschreckt hat, finde aber kein Gehör. Stattdessen nehme ich wahr, dass er weiter hinter mir auf der Rolltreppe fährt.
Was war passiert? Ich gehe davon aus, dass dieser Mann noch nie Berührung mit blinden Menschen hatte. Und dann sieht er eine blinde Frau, die mit normaler Laufgeschwindigkeit auf eine Rolltreppe zu läuft, und sieht sie schon diese hinunter stürzen. Und da man die Frau unbedingt vor dieser Gefahr bewahren muss, heißt es jetzt schnell handeln, und diese mit Kraft festhalten. Wahrscheinlich würde die Frau ihm als ihren Retter auf ewig dankbar sein.
Und ich? Ich stand auf der Rolltreppe, und hatte mein Gewicht entsprechend verlagert, so wie jeder sehende Mensch es ebenfalls tut. Und während dieses Prozesses greif jemand ein, und bringt mich fast aus dem Gleichgewicht. Bei allem Verständnis kann ich dafür weder Dankbarkeit, noch Freude empfinden. Dankbarkeit bestenfalls dafür, dass ich eine gute Körperbeherrschung habe. Denn sonst hätte ich mich bei der Aktion ordentlich verletzt. Auch wenn ich solche Situationen immer wieder erlebe, bin ich einfach nur erschrocken. Und mich macht diese Lernresistenz mancher Zeitgenossen immer wieder fassungslos. So, und außerdem sehe ich den Typen nicht. Sprich, mir fehlt die Information darüber, ob das jetzt Freund oder Feind ist. Und solange die Person nicht mit mir spricht, stufe ich sie erst mal als potentielle Gefahr ein. Fragt Euch mal wie es Euch ginge, wenn jemand Euch von hinten packt, irgendwohin schiebt, ohne zu sprechen, und Ihr könntet ihn nicht anschauen.
Hätte der Mann mich angesprochen, dann hätte ich Gelegenheit gehabt mich zu bedanken und die Hilfe höflich abzulehnen, oder bei Bedarf anzunehmen. Kurz, ich hätte mich nicht erschrocken, und könnte ihn richtig einordnen. Das hat einfach gefehlt.

Ich möchte nicht darüber diskutieren, ob und wie viel Hilfe Menschen mit einer Sehbehinderung brauchen. Denn da blind nur eine Eigenschaft von ganz vielen anderen Eigenschaften ist, unterscheidet sich auch hier der Hilfebedarf. Gemeinsam aber haben wir, dass jeder gern selbst entscheidet wann er welche Hilfe annimmt, und wann lieber nicht. Das ist genauso wie bei Familien, denen Hilfe bei der Kindererziehung angeboten wird. Manches Elternteil ist dankbar dafür, ein anderes Elternteil lehnt das kategorisch ab. Und dazwischen gibt es ganz viel Spielraum. Und bei Menschen mit Behinderung ist es ebenso.
Und so geht es richtig. Wenn Ihr jemanden seht, der vielleicht Hilfe brauchen könnte, dann bietet ihm diese an. Überlasst es ihm selbst diese anzunehmen, und vertraut darauf, dass die Person schon weiß was sie tut. Ich als blinde Frau kann besser einschätzen wann ich Hilfe brauche, und wann diese für mich hinderlich ist. Und was ich auch nicht brauche, das sind Kommentare wie „Vorsicht, da ist ein Mülleimer, eine Wand oder was auch immer“. So was erzeugt Stress und man fühlt sich beobachtet. Vielleicht laufe ich absichtlich darauf zu, weil mir dieses Hindernis eine Orientierungshilfe auf meinem Weg bietet.

Und jetzt freue ich mich auf einen spannenden Meinungsaustausch in den Kommentaren.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

12 Antworten auf „Hilfe gern – doch mit Verstand“

Liebe Lydia,
ich bezweifle nicht, das Du alltäglich Verletzendes erlebst.
Über manches wundere ich mich, als wiederhohlte Alltagsklage.
Vielleicht magst du auch du auch mal davon tippen, wie miteinander leicht ist.
Ich glaube, dieser Weg könnte es für viele Menschen leichter machen, miteinander zu leben.
Herzlich
KM

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Wenn jemand eine Gefahr sieht, kann er nicht vorher Fragen, ob Hilfe gewünscht ist. Sie fallen gleich die Treppe hinunter, soll ich Sie stützen, damit dies nicht passiert? Die Zeit ist nicht. Die Zeit zum Nachdenken ist auch sehr gering. Mehr Aufklärungsarbeit hilft da natürlich, soetwas besser einschätzen zu können. Wobei wiederum nicht jeder Blinde gleich ist…
Viele Grüße
Sebastian

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Sorry, aber auch blinde Menschen werden erwachsen, und können Gefahren einschätzen. Anfassen ist immer ein absolutes NoGo. Der Mann in meinem Beispiel hätte mich zum Stürzen gebracht, wenn ich nicht so gute Reflexe hätte. So was braucht kein Mensch.

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Oh ja, liebe Lydia, da sprichst Du etwas ganz essentielles an.

Auch ich hatte schon, z. B. in Bus, Bahn, Rolltreppe o. ä. die Situation, dass ich mich genau deshalb schmerzlich verletzte, weil man mir helfen wollte. Mein Rat ist hier für Helfer immer: fragen, denken, handeln. Dann klappts meistens. Und vor allem, wenn wir mal ablehnen, dann bitte nicht beleidigt sein… Also meine Toleranzgrenze für derlei Dummheit ist immer schneller erreicht, desto älter ich werde, habe ich das Gefühl. Manchmal gelingt es mir, in derlei Situationen die Ruhe zu bewahren und die richtigen Worte zu finden. Manchmal aber auch nicht. Anfassen Zerren, Schieben, sind Dinge, die einfach schlicht und ergreifend nicht gehen. Das verbietet schon unser Wertesystem, unsere Norm und Ettikette. Wieso meinen nur manche, dass das für Menschen mit Behinderung scheinbar nicht gilt. Uns kann man scheinbar würdelos angrapschen. Für derlei Handgreiflichkeiten kann man einfahren, wenn es dumm läuft. Hoffen wir, dass der Artikel bewirkt, dass respektvoll geholfen wird.

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Ich finde interessant, dass deine Einschätzung der Situation in zwei der Kommentare sofort in Frage gestellt, bzw. als „unnötige Klage“ empfunden wurde. Für mich ist ganz klar, so wie du schreibst, wusstest du, was du tust. Das anders vorauszusetzen und dich gar am Arm zurückzureißen und danach zu dutzen mit der Rechtfertigung „Ich mache das für dich!“ empfinde ich auch als übergriffig.
Herzlichen Gruß, Sarah

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Liebe Lydia, ja, was du sagst, ist sehr wichtig! Magst du dich vielleicht tatsächlich noch – bis Ende November – an meiner Blogparade zum Thema „Mut“ beteiligen? Du hast sicher was zu sagen dazu!🙂 Lg, Sarah

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Vorsicht Mülleimer ist ja noch etwas, mit dem man etwas anfangen könnte. Ich weiß wovor mich jemand warnen möchte. Viel schwieriger finde ich es, wenn man ein „Vorsicht“ vor wo auch immer her hört. Dann muss man überlegen, ist es jetzt etwas, was ich nicht mitbekomme oder mitbekommen würde, oder ist es etwas wie die Treppe, die ich schon längst registriert habe… Es könnte ja z. B. etwas sein, was in Kopfhöhe hängt, oder so, da wäre man ja froh darauf hingewiesen zu werden. Aber mit Vorsicht, kann man nichts anfangen, weil unklar ist wo die Gefahr stecken könnte oder aus was die Gefahr oder die vermeintliche Gefahr besteht.

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leider nur ein ganz kleiner Ausschnitt eines Problems, mit dem wahrscheinlich weit über 90% aller Menschen, die irgendwie mit einer der leider zahlreichen Behinderungen leben. Es mangelt einfach massiv an Empathie oder aber an dem Wissen, was der einzelne tatsächlich für einen beachtlichen Grad an Selbstständigkeit erreicht hat. Gerade ungefragte Hilfe – nicht nur in Situationen, die mir aufgrund der Behinderung Probleme machen – ist so ein Punkt, wo ich sage, ich habe ein kleines Problem, kriege ich alleine sehr gut hin, da ist Hilfe einfach nur übergriffig. Zum Glück sieht man mir meine Behinderung nicht an, wenn man mich nicht kennt, deswegen weiß im weiteren Umfeld kaum jemand davon, ist super praktisch. Wer es erkennt, dem sage ich kurz, ja, ich bin Autist und habe noch neurologische Störungen, aber ich komme klar, ich will einfach in Ruhe mein Leben leben, mein Studium abschließen und dann „wie alle anderen auch“ arbeiten gehen. Zumal ungefragte Hilfe in schwierigen Situationen – wie im oben genannten Beispiel auch frei von Sachverstand ist und mehr schadet als nutzt. Das wöchentliche Training finde ich richtig und sehr wichtig, aber alle anderen geht die Behinderung nichts an. Weder Komilitonen noch Kollegen bei meinem NEbenjob wissen, was los ist. Wenn ich aber daran denke, man würde mir meine Behinderung auch noch ansehen, weil ich im Rollstuhl säße oder Blind wäre, sorry das wäre die absolute härte.

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