Ich war vielleicht 25 Jahre alt, als ich einem Freund erzählte, dass ich gern einmal Kinder haben möchte. Jedenfalls wenn ich den Vater meiner Kinder gefunden habe. Im Laufe dieser Unterhaltung bekam ich zu hören, dass so manche blinde Eltern ihr sehendes Kind als Ersatz für einen Blindenführhund benutzen würden. Und das wünschte er keinem Kind. Ähnliche Äußerungen habe ich ganz oft gehört. Meist kamen diese von nicht blinden Eltern, die wie selbstverständlich davon ausgingen, dass Kinder blinder Eltern geboren werden, um die Eltern zu entlasten. Ich hörte viele Geschichten von netten Kindern, die ihre blinden Eltern überall hinführten, ihnen das Fleisch klein schnitten oder sie mit dem Auto zu Freunden und Veranstaltungen fuhren. Meist handelte es sich um blinde Personen der älteren Generation und deren erwachsene Kinder. Kurz, hier verglichen Leute Äpfel mit Birnen.
Babys sind erst mal klein und auf die Versorgung durch uns Eltern angewiesen. Ob die Eltern eine Behinderung haben oder nicht, spielt hier absolut keine Rolle. Denn in der Regel hat man während der Schwangerschaft ausreichend Zeit sich auf das Kind vorzubereiten, und sich bei Bedarf Hilfe zu organisieren. Meine effektivste Hilfe bestand aus einigen Müttern, die Kinder im selben Alter wie ich hatten. Diesen Kontakt hat meine nachsorgende Hebamme hergestellt, damit wir uns untereinander austauschen konnten. Beide Mütter hatten noch ältere Kinder. Und so durfte ich von deren Erfahrungen profitieren.
Solange meine Kinder noch nicht zuverlässig liefen, trug ich sie im Tragetuch am Körper, oder zog sie in einem Kinderwagen hinter mir her. Wenn das Licht gut genug war, um meinen Sehrest zu nutzen, konnte ich den Kinderwagen auch schon mal vor mir her schieben. Später liefen die Kinder bei mir an der Hand. Wir übten das erst mal in einer verkehrsberuhigten Gegend, bevor wir uns in den normalen Straßenverkehr trauten. Dabei habe ich viele Jahre mit dem Stock getastet. Denn kleine Kinder können noch nicht zuverlässig führen. Und die Verantwortung für ihre Sicherheit lag noch immer bei mir, und nicht umgekehrt.
Für meine Kinder war meine Sehbehinderung das normalste auf der Welt. Wir konnten kein Auto fahren, oder das Fußballspiel des Sohnes optisch verfolgen. Ebenso waren spontane Aktionen, wie mal eben auf einen Bauernhof oder zum Rodeln fahren nicht drin. Also brauchten wir alternative Lösungen, um den Kindern ein normales Aufwachsen zu ermöglichen.
Im Laufe der Jahre haben die Kinder gelernt sich sicherer im öffentlichen Nahverkehr zu bewegen als viele Kinder ihres Alters. Das konnte ich ihnen gut vermitteln. Doch es gab Dinge, die ich ihnen nicht zeigen konnte. Das fing mit der Ampel an. Ich suchte mir Personen, die meinen Kindern früh zeigten wohin sie bei einer Ampel schauen mussten. Auch die Anzeige für anfahrende Busse oder Bahnen ließ ich ihnen später von einer sehenden Assistenz zeigen. Und nachdem sie älter wurden, suchte ich mir jemanden, der ihnen erklärte wie man einen Fahrplan liest. Mein Ziel war, dass sie sich auch behelfen konnten, wenn ich mal nicht dabei war. Mit diesem Wissen war ich ruhiger, wenn sie mal alleine unterwegs waren. Denn auch Kinder behinderter Eltern brauchen mit zunehmendem Alter ihren Freiraum.
Unsere Urlaubsziele suchten wir uns nach der Zugänglichkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus. Das garantierte uns eine Unabhängigkeit von Assistenz oder Auto. Und wenn wir doch mal ins Ausland fuhren, plante ich den Ablauf sorgfältig. Als ich beispielsweise mit den Kindern nach Ägypten flog, waren sie 10 und 11 Jahre alt. Daher schickte ich eine E-Mail an das Hotel, und beschrieb welche Hilfestellungen ich als blinde Mutter brauchte. Ich fragte an was sie davon leisten können, und was das kostet. Und so bekam ich Hilfestellung am Büfett, Hilfe beim Ausfüllen des Anmeldebogens und einen festen Ansprechpartner, den ich jederzeit hätte anrufen können. Ich wusste, dass der Strand und die Pools beaufsichtigt wurden, was meine Nerven beruhigte. Ich begegnete vielen hilfsbereiten und wohlwollenden Mitarbeitern, die ohne Scheu mit mir sprachen. Erst recht, da ich arabisch spreche. Von diesem Urlaub erzählen die Kinder noch heute.
Wir waren danach noch ein paar Mal zusammen im Ausland. Im vergangenen Sommer haben beide Kinder sogar einen eigenen Urlaub gemacht, und ihn komplett selbst organisiert. Das war für sie eine wichtige Erfahrung, wie viele Teenager sie machen dürfen.
Wenn wir heute zusammen unterwegs sind, lasse ich mich gern von meinen Kindern führen. Jetzt, wo sie beinahe erwachsen sind, kann ich mich blind auf sie verlassen. Wir machen das so, weil wir das wollen, und nicht weil wir das müssen.
Ich bin stolz darauf, dass meine Kinder mir kein verantwortungsloses Verhalten unterstellen. Denn das habe ich von so manchem gut meinenden Miterzieher schon zu hören bekommen. Aber mit diesem Problem befinde ich mich mit vielen nicht behinderten Eltern in guter Gesellschaft.
Also, liebe Miteltern, habt Mitleid mit Euren selbsternannten Miterziehern. Denn sie wissen nicht was sie tun, und tun es trotzdem. Und das mit einer bewundernswerten Ausdauer. Vor Allem diejenigen, die keine eigenen Kinder haben. Sie haben ihre Vorstellungen. Aber die wirklichen Experten seid Ihr. Macht Euch das immer wieder bewusst.
20 Antworten auf „Sind blinde Eltern unverantwortlich?“
😂 Ich kringele mich gerade auf dem Boden. Kinder zu bekommen, damit sie die Eltern entlasten? Fällt in die gleiche Kategorie wie: „Familien mit vielen Kindern haben mehr Geld zur Verfügung!“
Diese Menschen können alle selbst noch nie Kinder groß gezogen haben…
*Lachtränchen aus den Augen wisch*
Vielleicht findest Du ja mal ein sehendes erwachsenes Kind blinder Eltern, das mal einen Beitrag darüber schreibt. Würde mich sehr freuen!
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Blinde Eltern sind ebenso verschieden wie sehende Eltern. Das wird gern außer Acht gelassen.
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Vieles in diesem Artikel kommt mir aus eigener Erfahrung sehr bekannt vor. Ich habe mich oft über den Satz gewundert: „jetzt sind die Kinder ja schon groß, da können sie euch ja helfen.„ Hab mich da immer gefragt: “und wie haben wir es vorher gemacht, als die Kinder noch klein waren?“——-
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Nun, wir haben es hier mit theoretischem Wunschdenken zu tun.
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Zu diesem Thema (also zu blinder Elternschaft und den Vorurteilen des Umfelds) gibt es gerade eine sehr schöne Kolumne von Hannah Reuter in der taz. „Blind mit Kind“ heißt die Kolumne, hier der Link: http://www.taz.de/!5530922/
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Ja, die Kolumne kenne ich, und finde sie lesenswert.
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Richtig gut geschrieben!!!!
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Jakob und Jasmin, dazu gehört für mich auch, dass ich selbst entscheide, ob ich mit oder ohne volljährige Assistenz verreise.
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Sehr schöner Text – wieder mal!🙂 Danke dafür und lieben Gruß, Sarah
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Danke Dir, liebe Sarah.
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Ein sehr guter Text.
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Ja, selbstverständlich darfst Du den Artikel rebloggen.
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Je mehr er Verbreitung findet, desto mehr Menschen erreichen wir Eltern.
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Darf ich den Artikel rebloggen? Dein Blog wird natürlich als Quelle angezeigt und verlinkt.
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Hat dies auf Frauen und Islam rebloggt und kommentierte:
Ein großartiger Text.
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[…] Sind blinde Eltern unverantwortlich? […]
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[…] Sind blinde Eltern unverantwortlich? Sind blinde Eltern unverantwortlich? […]
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Es ist wohl für Sehende geschrieben, so viel, was verschwiegen wird. Natürlich erfüllen Kinder kompensatorische Funktionen, in jeder Familie. Bei Blinden sind es eben Dinge, bei denen es nicht schaden könnte zu sehen, um es mal diplomatisch auszudrücken.
Wozu die Betonung der Freiwilligkeit? Bei blinden Eltern müssen die Kinder öffentlich fahren und sollten die Mama begleiten, wenn sie schneller und frustfreier ankommen wollen. Bei Blinden geht es nun mal langsamer.
Unverantwortlich wären blinde Eltern, die so täten als wären sie sehend.
Kann es übrigens auch nicht ab, die Blindheit als Vorteil darzustellen. Auch andere Kinder werden selbstständiger, die meisten Eltern können es sich nun einmal nicht leisten, täglich ihr Kind mit dem Auto zur Schule zu fahren.
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Ich denke nicht, dass man das so pauschalisieren kann. Übrigens reist man definitiv nicht schneller als blinde Mutter in Begleitung von zwei kleinen Kindern. Auch wenn sie sehen können. Jetzt, wo beide Kinder erwachsen sind, ist das so. Aber für mich war stets klar, dass meine Kinder nicht meine Betreuer sind, sondern genau umgekehrt.
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Natürlich kann ich verallgemeinern und dann erst den Spezialfall betrachten. Die Sonne wird morgen wieder im Osten aufgehen und ich werde es erleben, aber vorher könnte die Welt untergehen. Von dieser Unwahrscheinlichkeit lasse ich mich jedoch nicht leiten. Ich plane mein Leben danach, dass morgen auch noch ein Tag ist.
Es gibt generelle Probleme bei blinden Eltern, die ohne Hilfe nicht gelöst werden können. Will die Gesellschaft nicht, dass der Blinde auf Familie & Freunde angewiesen ist, muss sie dem mit persönlicher Assistenz / Gesetzen zur Bekämpfung von Diskriminierung und Barrieren entgegentreten. Da fehlt in Deutschland und Ö allerdings das meiste, weshalb viele darauf angewiesen sind und sogar hoffen, dass sie die Kinder erhalten. Das ist nichts Verwunderliches, in vielen Ländern der Welt ist das auch bei Gesunden Usus. Und in der Regel leben auch hierzulande Blinde nicht in der Ersten Welt.
Sicher, viele Blinde leben auch ohne Partner und Kinder, oft unfreiwillig. Irgendwie kommen sie auch über die Runden, aber es ist ein hartes Los.
Zum Thema frustfrei ankommen: Wie soll ich das verstehen? Lassen Sie sich von erwachsenen Kindern nur deshalb führen, weil Sie so gerne Körperkontakt haben? Schneller und unfallfreier scheint es bei Ihnen ja ohne Begleitung zu gehen. Sicher wird auch rein freiwillig ein Formular ausgefüllt, das ist kein Gefallen und wäre ohne Hilfe viel einfacher. Bei Behörden warten die Mitarbeiter nur darauf, Ihnen diese Ehre erweisen zu dürfen.
Es ist toll, durch das Schreiben zu zeigen, dass Blinde in erster Linie auch Menschen sind. In zweiter Linie sind sie Mitglieder unserer Gesellschaft, sie sind Mütter, sie sind manchmal berufstätig. Aber die Blindheit beeinträchtigt auch massiv, das sollten wir nicht leugnen. Da bräuchten wir die Hilfe der Gesellschaft, viel mehr als es derzeit der Fall ist.
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