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Allgemein Bildung Zu Gast auf lydiaswelt

Gedanken zum Thema Inklusion

Inklusion wird immer wieder kontrovers diskutiert. Mein Gastautor Matthias Schäfer hat als Mensch mit Behinderung seine Gedanken dazu aufgeschrieben.

Ich danke Matthias für seinen Text über Inklusion. Er hat schon mal für mich geschrieben. Hier geht es zu seinem Beitrag Brandschutz für blinde Menschen.

Als blindes Kind besuchte ich eine Sonderschule für blinde Kinder, kurz Blindenschule. Heute nennt man das Schule mit dem Schwerpunkt Sehen. Damals waren sogar noch blinde und sehbehinderte Schüler in separaten Schulen getrennt. Da blinde Kinder eine verhältnismäßig kleine Gruppe sind, gab es im Bereich Grund- Haupt- und Realschule, nur eine Einrichtung in Hessen. Ähnlich war es in anderen Bundesländern geregelt. Der Gymnasialzweig für alle Schüler in Deutschland befand sich in Marburg an der Lahn. Die Klassenstärke lag maximal bei 10 Schülern und einer Lehrkraft.
Also war klar, kleine blinde Kinder mussten mit dem Schuleintritt in ein Internat. In Meinem Fall also nach Friedberg. Das bedeutete: Sonntags nachmittags, bereits um 14.30 Uhr fertig machen, Packen und weg aus der Familie. Erst freitags gegen 18.00 Uhr war ich wieder zuhause. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium in Marburg hatten wir samstags Unterricht. Es gab nur ein Wochenende mit einem freien Samstag. Im Klartext hieß das, dass wir Schüler unsere Familie nur einmal im Monat besuchen konnten. Klar, dass man sich dann, spätestens als Jugendlicher in der Pubertät, von seiner Familie entfernt. So war ich schon mit 17, fast gar nicht mehr zuhause.
Vorher, war ich in einem ganz normalen Kindergarten. Ich hatte Freunde und lernte mich durchzusetzen. Als ich dann ins Internat kam, waren die Freunde schnell weg und das bisschen Wochenende und die Ferien, waren dann, was das Zusammensein mit Gleichaltrigen betrifft, ziemlich einsam.
Als Jugendlicher erlebte ich dann so besondere Maßnahmen, wo man, als besonderes Projekt, blinde und sehende Kinder zusammenbrachte. Beide Gruppen hatten sonst im Alltag kaum etwas miteinander zu tun. Diese „Besonderen pädagogischen Maßnahmen“, waren von vielen Missverständnissen geprägt. Da merkte man als blinder Jugendlicher erst, dass die Entwicklung und der Erfahrungshintergrund, in der exklusiven Welt, eine ganz andere ist.
Für meine Eltern und mich, war die Internatszeit, eine schlimme Zeit. Ich finde es noch heute ein Unding, Kinder, die in einer intakten Familie leben, so früh in ein Internat geben zu müssen. Erst später, nachdem ich geheiratet hatte und selbst Kinder hatte, habe ich wieder ein normales Verhältnis zu meinen Eltern entwickelt.

Nun zur Inklusion:
Inklusion wird nahezu von allen Lebensbereichen aufgegriffen. Jeder, der sich im Sozialbereich profilieren will, macht ein Inklusionsprojekt. Inzwischen beteilige ich mich nicht mehr an solchen Projekten. Überall, wo ich als aktiver blinder Mensch auftauche, will man mich inkludieren. Das nervt! Vor einigen Monaten sollte eine Reportage über inklusive Familien gedreht werden. Die Teilnahme habe ich trotz meiner hohen Medienpräsenz, abgelehnt. In jeder Familie, gibt es spätestens in der älteren Generation, jemand mit Einschränkungen. Also was soll dieser Quatsch mit „inklusiven Familien“.

Leider ist die Umsetzung der Inklusion an Schulen, durch Schnellschüsse und Unüberlegtheit geprägt. Inklusion findet dadurch statt, dass jeder Schüler mit Unterstützungsbedarf, eine Assistenz bekommt. Die Lehrer sind meistens sonderpädagogisch nicht kompetent. Wie auch, bei den unterschiedlichen Bedürfnissen? Die Assistenz ist aber meist auch ungelernt. Und die Institutionen, bei denen die Assistenzkraft angestellt ist, haben auch meistens keine Kompetenz, für die Formen von Behinderung, die sie nicht spezifisch unterstützen. So schickt z.B. die Lebenshilfe die sich auf die Unterstützung von Menschen mit kognitiven Behinderungen spezialisiert hat, auch Assistenten zu blinden und sehbehinderten Kindern. Das können auch schon mal Jugendliche, die gerade erst aus der Schule gekommen sind, ein freiwilliges soziales Jahr machen und so über kaum bis gar keine Erfahrungen verfügen sein. Dies versucht man dann, durch speziell sonderpädagogisch ausgebildete Förderlehrer, die Stundenweise an der Schule sind, auszugleichen. Dabei stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich ausreicht. Denn Lehrer und Schulassistenz müssen ja auch mit den speziell aufbereiteten Lernmaterialien und den technischen Hilfsmitteln, die z.B. ein blindes Kind braucht, zurechtkommen, um die Schüler adäquat zu unterstützen.

Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass die Inklusionsschüler immer jemanden an der Seite haben, der sie speziell betreut. Die Kinder mit Behinderung lernen dadurch: Ich bin etwas Besonderes und brauche immer jemanden, der für mich da ist.
Wir als Schüler einer Schule für blinde Kinder, sind ganz normal auf dem Pausenhof herumgetobt, sind auf Bäume geklettert, Rollerskates und auf dem Hof, Fahrrad gefahren. Die Kinder mit Behinderung, die heute an einer Regelschule sind, dürfen nicht mal hinfallen, dürfen sich oft nicht mal alleine in der Pause bewegen.

Ein weiteres Problem ist der Sportunterricht. Sehende Kinder machen viele Ballsportarten, an denen das blinde Kind nicht teilnehmen kann. Das blinde Kind bekommt immer das Gefühl, dass es viele Dinge, nicht mitmachen kann und die Sportlehrer sind nicht darauf ausgebildet, für alle Kinder mit Inklusionsbedarf, Alternativen zu finden. Wir in der Blindenschule haben fast alles machen können. Leichtathletik, spezielle Ballsportarten, Ski fahren, – auch Abfahrt – Kajak fahren, rudern, Reiten, surfen und vieles mehr. Kein normal ausgebildeter Sportlehrer, und die Assistenz schon gar nicht, haben die Kompetenz, hier z.B. ein blindes Kind effektiv zu integrieren.

Im Internat hatten wir Freizeitangebote, AGs, an denen wir außerhalb der Schulzeit teilnehmen konnten. Wir trafen uns ganz normal mit Freunden. Leider ist es im Rahmen der „Inklusion“ so, dass diese oft nach Schulschluss endet. Kaum ein Sportverein ist auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ausgerichtet. Eine Assistenz zur Teilnahme an Freizeitaktivitäten wird von den Kostenträgern nicht finanziert. Selbst die Unterstützung von Teilnahme an Schul-AGs ist kaum realisierbar. Unter Umständen kann das für das blinde Kind ein recht einsames Leben bedeuten. Mir werden immer mehr Fälle bekannt, wo sich blinde Schüler nach einigen Jahren wieder in die Sonderschule flüchten.

Bei all dem darf man nicht vergessen, dass es auch eine Menge Behinderungsarten gibt, bei denen eben nur die bauliche Barrierefreiheit gewährleistet sein muss. Für die ist es natürlich absoluter Blödsinn, sie in eine Sonderschule zu schicken.

Die Inklusion, wie sie derzeit gelebt wird, ist insgesamt wenig durchdacht. Hier mal ein möglicher Vorschlag, wie schulische Inklusion gelingen kann:
Wir schaffen einen neuen Beruf. Nennen wir ihn mal Lehrerassistent. Jeder Lehrer, der in seiner Klasse Schüler mit besonderem Förderbedarf hat, bekommt einen Lehrerassistenten, der dem Lehrer im Unterricht assistiert. Dieser Lehrerassistent sollte eine zwei bis dreijährige Ausbildung durchlaufen. In dieser Ausbildung lernt der Assistent verschiedene Förderbedarfsgruppen kennen und erlernt Techniken, wie unterschiedliche Bedarfe, in den Schulalltag zu integrieren sind. Die Assistenten sind nicht bei irgendeinem Träger angestellt, sondern sie gehören in den Stellenplan der Schule.
Die Assistenten assistieren dem Lehrer, sind in die Pausenaufsicht mit integriert und assistieren auch bei Freizeitangeboten in der Mittagspause, AGs etc.
Dies löst mit Sicherheit nicht alle Probleme, wäre aber ein guter Ansatz.
Die Diskussion um schulische Inklusion polarisiert. Es gibt radikale Befürworter und es gibt Gegner. Die Durchführung von Inklusion ist geprägt durch Streitigkeiten zwischen Eltern, Schulen, Trägern der Schulassistenten und den Behörden, die die Kosten für die Förderung übernehmen.
Eine Diskussion aller Beteiligten darüber, wie Inklusion tatsächlich gelingen kann, wäre zum Wohl der Kinder mit besonderem Förderbedarf dringend notwendig.

Karl Matthias Schäfer engagiert sich im Landesvorstand des Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen – BSBH. Einen Einblick in den Alltag des Technik interessierten Berufspendlers könnt Ihr Euch auf diesem Video ansehen.

Ich lade alle an diesem Thema interessierten Leser dazu ein in den Kommentaren darüber zu diskutieren.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

9 Antworten auf „Gedanken zum Thema Inklusion“

Nur zur Korrektur. Maarburg war und ist nicht die einzige Stadt in Deutschland, in der es eine Sonderschule mit gymnasialer Oberstufe gibt! Das hier immer Königs Wusterhausen (bei Berlin) vergessen wird.

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Die Idee, Schulbegleitungen korrekt auszubilden und auch zu bezahlen finde ich gut.
Diese der Schule zu unterstellen jedoch nicht.
Unsere Schulbegleitung weiß vieles über unseren autistischen Sohn, was Lehrkräfte dem Grunde nach nichts angeht aber trotzdem wichtig ist, um unseren Sohn zu verstehen.
Ja, die Schulbegleitung ist in der Pause in seiner Nähe, klebt aber nicht an ihm.
Es ist notwendig, dass sie so eng begleitet, da es gerade in Pausensituationen oft zu Missverständnissen in der sozialen Kommunikation kommt. Diese sind nur klärbar, wenn man die Situation vorher beobachtet hat.
Ansonsten würde es zu einer sehr zeitaufwändigen Nachbesprechung kommen bzw. mein Sohn wäre im extrem Fall den Rest des Tages oder Woche nicht mehr schulfähig.

Die Idee des Lehrerassistenten finde ich trotz allem gut, allerdings unabhängig vom Thema Schulbegleitung.

FSJler und BufDis in der Schule als Betreuer einzusetzen sehe ich als sehr problembeladen an.
Eventuell geht es, wenn sie als Fahrdienst eingesetzt werden, aber leider sollen einige auch pädagogische Aufgaben übernehmen. Und das, ohne vorher ausreichend geschult und angeleitet zu werden.
Wenn eine 18jährige eine Schülerin mit Epilepsie begleitet soll und dies vorher nicht gesagt bekam und auch noch nie einen Anfall gesehen hat, dann ist das sehr schwierig und meines Erachtens verantwortungslos.

Das größte Problem, ob nun Teilhabe in der Schule oder in der Freizeit, ist tatsächlich die Finanzierung.
Nur den Freizeitbereich trifft es noch viel härter.

Allerdings stelle ich mir die Frage, ob sich denn jemals etwas ändern wird wenn wir Inklusion nicht leben und z.B. Vereine damit konfrontieren, dass da wer mit Behinderung mitmachen möchte.

Viel zu selten wird gefragt „Was braucht ihr“ und viel zu oft wird gesagt „das können wir nicht“.

Kämen mehr Fragen, ließen sich auch Konzepte erarbeiten.

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Interessanter Beitrag! Ich habe mich mit dem Thema noch nicht besonders viel auseinandergesetzt, aber fühle mich jetzt deutlich aufgeklärter, danke! An meiner Schule werden einzelnen Kindern Betreuer an die Seite gestellt, wenn sie Bedarf haben. Jedoch hatte ich immer das Gefühl, dass diese Betreuer und die Kinder zwar eine innige Beziehung führen, jedoch die bedürftigen Kinder nie wirklich in die Schulgemeinschaft integriert waren.
Denkst du, dass man da noch etwas machen kann oder muss man der Sache einfach Zeit lassen?
Grüße
J.

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Aus der Erfahrung mit meinen drei älteren autistischen Kindern, die erst diagnostiziert wurden, als sie bereits auf der weiterführenden Regelschule waren,
sie sind auch ohne Begleitung nie in der Klassengemeinschaft integriert gewesen.
Dafür haben sie Mobbing erlitten.
Ihnen fehlt/e oft die Möglichkeit soziale Situationen mit jemandem besprechen zu können, der die Situation auch mitbekommen hat.
Und jemand, der ihnen im Durcheinander von Vertretungsunterricht und Raumwechsel zur Seite steht.
Auch viele fachliche Probleme wären viel schneller lösbar gewesen.
So hat alles unglaublich viel mehr an Kraft gekostet, als es die anderen SchülerInnen erleben.
Nicht ohne Grund brauchen meine Kinder nachmittags unglaublich lange für die Regeneration. Wir reden hier von mehreren Stunden.
Das ist bei meinem Jüngsten durchaus anders.
Und nein, eine spezielle Förderschule für AutistInnen gibt es nicht, was gut ist.
Die Kinder brauchen zu dem Input und Beispiel durch die Peergroup.

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Bei meinem Sohn braucht es definitiv noch Zeit.
Gerade jetzt in den Anfängen der Pubertät sind alle SchülerInnen auf einmal ganz anders und viele erlernten sozialen Regeln greifen nicht mehr.

Ob eine Schulbegleitung wirklich hindernd wirkt, liegt ganz stark in der Person begründet.
Unsere jetzige hat sich einen Vertrauensstatur bei allen Kindern erarbeiten können, so dass diese nicht nur zu ihr kommen, wenn sie ein Problem mit meinem Sohn haben, sondern auch wenn sie selber mit sozialen Situationen Probleme haben und sich nicht trauen irgendwen anderes zu fragen.

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Super Artikel!
Dass es irgendwann möglich sein wird alle Kinder mit egal welcher Behinderung oder ohne eine solche zusammen zu unterrichten halte ich für eine Utopie.
Bitte versteht mich nicht falsch, selbstverständlich würde ich es mir erhoffen dass dies irgendwann einmal möglich ist, jedoch gibt es zufiele unterschiedliche Behinderungsarten als dass dies Sinnvoll für eine möglichst optimale schulische Ausbildung für jedes Kind wäre.
Weiterhin kann ich jedes Kind gut verstehen, welches nicht nach der vierten Klasse auf ein Internat in einer fremden Stadt wechseln muss um die weiterführende Schule zu besuchen. Mich stört jedoch das in Beiträgen hier oder auf anderen Blogs immer so getan wird als wenn dies nur für Kinder mit einer Beeinträchtigung so wäre. Ich selber musste auch ohne Beeinträchtigung nach der vierten Klasse auf ein Internat wechseln da meine Eltern auf einem kleinen Dorf leben von dem mein täglicher Schulweg zum nächstliegenden Gymnasium einfach zwei Stunden gedauert hätte, weshalb mir und meinen Eltern das Schulamt nur die Wahl ließ entweder ich gehe auf eine Mittelschule oder eben das Internat.

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