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Das kannst Du nicht, lass mich das machen

Nicht nur bei Kindern mit einer Behinderung wird der Focus auf die Dinge gerichtet, die diese laut dem eigenen Weltbild nicht können. Hier ein paar Gedanken aus meiner eigenen Jugend.

Diese und ähnliche Aussagen kennen Menschen mit einer Behinderung nur zu gut. Als blindes Kind bedeutete das für mich, dass ich stets mit Dingen konfrontiert wurde, die ich nicht konnte. Jedenfalls Dinge, die zu einem lebensfähigen Menschen dazu gehörten.

Praktische Beispiele bis zum 9. Lebensjahr waren:
– Ich konnte mir nie ein Glas Wasser oder Tee selbst einschenken.
– Ich habe nie gelernt ein Kleidungsstück zusammenzulegen.
– Ich durfte nie eine Straße ohne sehende Hilfe überqueren.

Ich habe also gelernt, dass ich blind, und damit hilflos bin. So, wie mein Umfeld mich eben sah. Meine Eltern sahen in mir aber auch, dass ich Schulstoff sehr schnell aufnahm. Und weil ich sehr schnell besser deutsch sprach als meine restliche Familie, war für meine Eltern klar, dass ich einen Beruf wie Übersetzerin oder Lehrerin ausüben würde. Ich würde einen sehenden Mann heiraten, der mich zur Arbeit fahren und in Allem unterstützen würde. Und mit viel Glück würde ich sehende Kinder bekommen, die mir später helfen würden. Ja, und solange würde meine Familie für mich sorgen. Und weil ich meinen Eltern vertraute, glaubte ich selbst lange Zeit an diese Lebensplanung
Die große Veränderung kam, als ich mit neun Jahren auf eine Schule für blinde Kinder wechselte. Bisher hatte ich eine Schule für sehbehinderte Kinder besucht, die mit einem Schulbus erreichbar war. Nun musste ich auf das angeschlossene Internat, weil die
Schule zu weit weg war, um täglich nach Hause zu kommen. Ein Lehrer aus der Schule hatte uns zuhause besucht, und mir viel von der Blindenschule und den Kindern erzählt. Ich fand das spannend. Denn ich kannte keine anderen blinden Kinder. Und ich würde Freunde finden, mit denen ich in und nach der Schule spielen konnte. Für meine Eltern brach damit eine Welt zusammen, als sie ihr blindes Kind weggeben mussten. Es dauerte sehr lange, bis sie begriffen, dass auch andere für mein Wohl sorgen konnten, und dass sie damit keine Rabeneltern waren.
Ich erlernte die Brailleschrift, entdeckte die Schulbücherei und gewann Freunde, mit denen ich nicht nur gemeinsam lernte, sondern auch Spiele, Sport und Blödsinn machte. Eben all das, was zum Kind sein dazu gehörte. Ich lernte, dass ich auch Spiele wie „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen konnte, da die Farben der Steinchen als fühlbare Oberflächenstruktur dargestellt wurden. Heute spricht man von Adaption. Und auch im lebenspraktischen Bereich erweiterte ich meinen Horizont. Denn Küchendienst, Brot selbst streichen oder seinen Tee einschenken waren auch blind machbar, wie mir Erzieher und Mitschüler zeigten. Ich lernte, dass ich meinen Kleiderschrank auch blind beherrschen konnte, wenn die Anordnung nicht von jemand anderem verändert wurde.
Vor Feiertagen wie Ostern, Weihnachten oder Muttertag wurde im großen Aufenthaltsraum gemeinsam gebastelt. Anstatt „Du kannst das nicht“ hörte ich „Probiere das mal“ oder „Wir machen das zusammen“. Gleiches galt auch für die Schulfächer Kunst oder Werken. Man versuchte uns so viel wie möglich alleine machen zu lassen. Und das rechne ich den Erzieherinnen und Lehrkräften hoch an.

Meine Familie besuchte ich nur noch am Wochenende und während der Ferien. Und als ich später auf ein Gymnasium für blinde und sehbehinderte Schüler wechselte, sah ich meine Familie nur noch einmal im Monat und während der Ferien. Hier gehörten der Umgang mit dem Blindenstock und der Umgang mit der Bratpfanne genauso zum Lehrplan wie der Schulstoff. Diese stetige Weiterentwicklung verpasste meine Familie ein bisschen. Für sie blieb ich lange Zeit das hilflose blinde Kind, das permanent umsorgt werden muss. Dazu kam, dass ich zuhause keine festen Freunde hatte, mit denen ich all das teilen konnte, was zum Erwachsenwerden gehörte. Und meine Schulfreunde waren ebenfalls bei ihren Familien. Zu weit weg, um sich mal eben für einen Nachmittag zu verabreden. Briefe in Braille oder auf Kassette, oder telefonieren waren die einzigen Möglichkeiten miteinander in Kontakt zu bleiben. Meine Punktschriftmaschine, meine Reiseschreibmaschine und jede Menge Bücher oder Hörbücher aus den entsprechenden Büchereien waren meine besten Freunde. Es war also ein völlig anderes Leben in einer etwas anders denkenden Umgebung.

Wenn zu meiner Schulzeit blinde Kinder integrativ an einer Regelschule unterrichtet wurden, dann war das etwas ganz besonderes. Schüler, die mitten in der Schullaufbahn aus der Regelschule auf das Internat für blinde Schüler wechselten, erlebten oft den Schock ihres Lebens. Denn oft wird der Focus auf den Schulstoff gelegt, und die Selbständigkeit eher stiefmütterlich behandelt. Ich habe Schüler erlebt, die ein super Zeugnis hatten, jedoch nicht in der Lage waren alleine von einem Raum zum Nächsten zu gehen, weil sie stets von Mitschülern oder einem Schulbegleiter an die Hand genommen wurden. Und Orientierung muss man nicht nur in ein paar Stunden Training erlernen, sondern auch permanent üben.

Alle Welt spricht von Inklusiver Beschulung behinderter Kinder. Dabei betrachten die einen das als gemeinsamen Unterricht, andere als eine Möglichkeit der Kinder in ihren Familien zu bleiben. Soweit, so gut. Bei dieser Diskussion vermisse ich den Ausblick in die Zukunft. Ich denke, dass Eltern daran liegt, dass ihr Kind zu einem selbständigen Menschen heranwächst. Das sollte auch für Kinder mit einer Behinderung gelten. Und das funktioniert nicht, wenn man dem Kind alles aus der Hand nimmt, von dem man denkt, es könne ihm Schaden.

Kinder mit einer Sehbehinderung haben einen Anspruch auf Frühförderung, Mobilitätstraining und andere Fördermaßnahmen, die ihnen zur Selbständigkeit verhelfen sollen. Diese Maßnahmen erfolgen durch speziell ausgebildete Fachkräfte, die wissen wie blinde und sehbehinderte Menschen arbeiten, und wie man ihnen etwas vermitteln kann. Und sie bringen die Geduld mit einen etwas ausprobieren zu lassen, was im Elternhaus oft nicht stattfindet.

Liebe Angehörige und Freunde von Kindern mit einer Sehbehinderung,
wir arbeiten anders als Ihr. Daher ist es wichtig, dass Ihr die Geduld mitbringt den blinden Menschen seine Erfahrungen machen zu lassen. Das ist ganz wichtig, damit es irgendwann funktioniert, wenn Eure helfende Hand nicht mehr da ist. Und noch etwas: Regt Euch nicht darüber auf, wenn mal was daneben geht. Das kann man aufwischen. Außerdem ist es völlig unnötig jeden Handgriff des Blinden zu kommentieren. Niemand mag es, wenn er oder sie unter Beobachtung steht. Ich persönlich kann bis heute nicht arbeiten, wenn ich das Gefühl habe, dass mir jemand auf die Finger schaut. Auch wenn es nicht so gemeint ist, fühlt es sich an wie in einer Art Prüfung. Und wenn Ihr Euch an Eure eigenen mündlichen oder praktischen Prüfungen erinnert, fragt Euch wie sich das angefühlt hat.

Für Euer Verständnis bedankt sich Eure Lydia

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

7 Antworten auf „Das kannst Du nicht, lass mich das machen“

Das ist ein sehr guter Bericht!!! Kommt von Herzen, das merkt man sehr!!! … und nicht nur behinderten Kindern kann das so gehen,… Leider kann dieses schwere Los auch gesunde treffen, wie ich an meiner Schwiegermutzer sehe! Sie hörte damals als Nesthäkchen immer nur, lass das, das kannst du nicht, und so lernte sie nie den Haushalt, das Kochen und und und, und das schlimme ist, sie ist so geblieben! Ich weiß bis heute nicht wie mein Mann es überhaupt geschafft hat bei ihr „groß und stark“ zu werden 😄. Sie ist bis heute nicht in der Lage neues selber auszuprobieren, ….das ist in ihr drin, … fast so wie eine lebenslange Blockade. Über diesen Schatten zu springen, schafft sie nicht, da dieses verhätscheln bis zu ihrem 23. Lebensjahr anhielt und ihr Gatte sie während der Ehe, ja auch ganz genauso „dumm hielt“ !

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Sicher kann ich verstehen, dass Eltern wollen, das dem Kind nichts passiert. Das wollen alle Eltern, und auch Oma, Opa usw. Aber wie so irgendjemand allen Ernstes glauben kann, mit dem oben geschilderten einen Gefallen zu tun. Egal ob das Kind eine Behinderung hat oder nicht.

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Liebe Lydia, mein Verständnis hast Du ganz gewiss. Wie Wasser auf das Rad meiner Mühle sind Deine so wahren Worte. Auch ich bin noch immer zu tiefst dankbar für meine blindentechnische Grundausbildung. Auch für mich war es stets eine Erholung, wieder im Internat zu sein, weil ich daheim entweder nichts konnte, bzw. ausgelacht wurde, wenn ich in manchen Dingen langsamer war, z. B. bei der Ernte auf dem Feld oder im Garten. Andererseits verdanke ich dieser harten Schule auch sehr viel. Wie auch immer. Ich bekomme Magendrücken, wenn ich erleben muss, was bei der Inklusion schief gehen kann und tut, weil sie nur Lippenbekenntnisse mancher Politiker ist und sich mit einer neoliberalistischen Grundhaltung einfach, ob wir wollen, oder nicht, niemals vereinbaren lassen wird. Das ist meine Überzeugung. Habe vielen Dank, dass Du das so herrlich, wunderbar und anschaulich geschildert hast. Das mag so manchem in der Community vielleicht nicht ganz geschmeckt haben…

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Hallo Lydia,
ich finde den Vergleich zwischen Internat und Familie / Inklusion verkürzt: Im Internat arbeiten Leute, die Geld für das kriegen, was sie im Internat tun und dort nichts anderes zu tun haben, als das, was sie da eben tun.

Es gibt Verwaltungskräfte, Leute die sich um Haushalt, Wäsche, Garten, Kochen, Haustiere etc. kümmern. Die Pädagogen können Pädagogik machen. Das ist ihr Job – sie müssen nicht „nebenbei Geld verdienen“, Angehörige versorgen, soziale Kontakte pflegen, Haushalt und Verwaltungsaufgaben erfüllen, zum Elternabend, sich selbst versorgen etc. Sie machen mal zur Anschauung Haushalt, Einkäufe und Kochen und haben dann natürlich auch genug Ressourcen, um auch blinde Kinder selbstständig arbeiten zu lassen. Und sie können sich genug Zeit nehmen dafür. Dafür fehlen im sonderpädagogischen Internat wieder viele Dinge, die man in einer Einbindung in Wohnumfeld und Familie gelernt hätte. Der Tag hat nur 24 Stunden, es müssen Prioritäten gesetzt werden und die Inklusionsschüler lernen dann wie viele Kinder ohne Behinderungen Haushaltsführung vielleicht auch erst mit dem ersten eigenen Haushalt. Wobei schon viel gewonnen wäre, wenn Inklusion nicht wie allzu oft Segregation nur in einer anderen Schule wäre, sondern die Schule und der Unterricht maximal zugänglich wären, so dass die blinden Schüler wirklich mitmachen könnten.

Das sage ich vor allem, weil ich bei uns merke, dass es zuallererst an der Zeit scheitert, mein behindertes Kind mehr als ab und an Dinge im Haushalt selbst machen zu lassen.

Denn wenn ein Kind in seiner Familie lebt und die Familie nicht insgesamt auf Sozialhilfeniveau leben möchte, bekommt das blinde Kind in Deutschland keine Leistungen wie blindenpädagogische Einzelfallhilfe jenseits von Einrichtungen, die die Zeit und das pädagogische Wissen hat, es zuhause gezielt zur Selbstständigkeit anzuleiten.

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Ein super Beitrag! Danke liebe Lydia, besser hätte ich es nicht formulieren können! Ich habe allerdings auch den Leistungsdruck kennen gelernt, der durch den Zwang so selbstständig wie möglich sein zu müssen, entstanden ist. Vorzeigbar sein und der Umgebung, Familie, Freunde, vor allem aber mal Familie und Verwandte, keine Schande machen. Das hat in meiner Erziehung ganz viel im Vordergrund gestanden vorzeigbar sein, das war die Devise. Und so gilt es die Ballons zu finden zwischen dem fahren und dem Recht auf so viel Selbstständigkeit wie möglich, aber auch dem Recht einmal abgeben zu dürfen, wenn es zu viel wird. Und für mich war mit zwölf Jahren eine 40 Stunden Woche mit allen Maßnahmen, die so zu Förderung gab, definitiv zu viel. Ich habe es durchgezogen, weil ich damals geglaubt habe es zu müssen. Ich bin sehr selbstständig und lege darauf und auf meine Selbstbestimmung großen Wert. Ich finde interessant, dass die meisten Menschen mit Selbstständigkeit und Selbstbestimmung mehr Probleme haben, als mit Hilflosigkeit. Ich finde das immer wieder etwas merkwürdig! Es gibt so viele Farben, da muss es nicht schwarz-weiß sein.

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