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Auch Blinde haben mal schlechte Laune

Wenn übertriebene Fürsorge einen blinden Menschen in Gefahr bringt.

Es ist Sonntag und später Nachmittag. Am Abend findet eine Familienfeier statt, für die ich mich noch fertig machen muss. Am Nachmittag hatte ich ein Treffen in Friedberg, die SBahn habe ich nur bekommen, weil sie Verspätung hatte, und ohnehin bin ich eine Stunde später als ursprünglich geplant zuhause. Kurz, ich bin voll im Stress. Und weil im Linienbus mal wieder die Ansage der Haltestellen abgeschaltet war, bin ich auch noch zu weit gefahren. Gut, dass mir der weg vertraut ist.

Ich gehe sehr zügig meinen Weg. Plötzlich taucht in meinem eingeschränkten Blickfeld ein Mensch auf, der langsamer unterwegs ist als ich. Ich versuche zu überholen, geht aber nicht, da dieser Mensch in dieselbe Richtung ausweicht wie ich. Meine Bitte mir Platz zu machen wird entweder nicht gehört oder einfach ignoriert. Aber ich will jetzt hier vorbei! Also weiche ich auf den Fahrradweg aus. Plötzlich werde ich von einem Arm aufgehalten, der sich mir ausgebreitet in den Weg legt. Und das in Brusthöhe. Das tut ganz schön weh. Geht’s noch? Fast hätte ich mich auf die Nase gelegt. Und als ob das nicht ausreicht kommt die weibliche Stimme aus dem Hintergrund und mault mich an: „Machen Sie langsam, sie sehen doch nix“. Dabei krallt sich eine zweite Hand in meine Jacke.

Ich bin wütend und erschrocken zugleich. Und so ist es nicht verwunderlich, dass ich die Dame erst mal so richtig anschnauze und mich aus ihrem Klammergriff befreie. Ich ignoriere meinen Schmerz und laufe weiter. Ich höre wie sie mir etwas wie „So was undankbares aber auch. Soll doch froh sein, dass man ihr hilft.“ hinterher ruft. Ich bin so was von wütend, dass es mir egal ist wie sie denkt. Soll sie doch herumerzählen, dass die Blinde absolut undankbar und unfreundlich ist. Jetzt, hier und heute ist mir das so was von egal. Ich will nur noch weg.

Was war passiert? Die Dame hat eine Blinde gesehen und wollte diese aufhalten. Vermutlich hat sie überlegt, dass sie, wenn sie die Augen zu macht, ganz sicher vor den nächsten Laternenpfahl laufen würde. Und davor wollte sie mich bewahren. Und wie macht man das am besten? Man breitet die Arme aus, um das Objekt der Wahl aufzuhalten. Und damit diese Frau nicht fällt, halten wie sie mit der anderen Hand fest. Ich denke, dass die hilfsbereite Dame keinen Moment darüber nachgedacht hat, dass sie mich nie würde halten können. Und auch nicht, dass ich das nicht gut finden könnte.

Zugegeben, ich war sehr schnell unterwegs. Das hat für mich zur Folge, dass ich mich mehr auf den Weg konzentrieren muss. Ich muss in derselben Zeit mehr Schritte mit dem Blindenstock vorher abtasten, bevor ich meinen nächsten Schritt setze. Dabei hilft mir mein Sehrest von ca. 2 % bei der groben Orientierung. So was wie Bäume oder Autos kann ich noch erkennen. Dasselbe gilt auch für Menschen, die vor mir laufen. Daher kann ich mir dieses schnelle Tempo gefahrlos leisten. Ich bin eine erwachsene Frau, und entscheide selbst wi schnell oder langsam ich mich bewegen möchte und kann. Und wenn ich dabei vor eine Laterne laufe, dann ist es auch mein eigenes Verschulden. Jeder Mensch hat ein Recht darauf mit der Nase gegen eine Wand oder was auch immer zu laufen. Da bilden Blinde keine Ausnahme. Ich kann von mir sagen, dass ich solche Dinge ganz gut einschätzen kann. Hier war also das beherzte Eingreifen einer anderen Person absolut kontraproduktiv.

Und jetzt nochmal für diejenigen, die noch immer denken: „Die hat es doch nur gut gemeint“. Wie würdet Ihr reagieren, wenn Ihr schnell unterwegs seid, und jemand Euch fast von den Füßen holt? Es übersteigt meine Vorstellungskraft mir vorzustellen, dass jemand sagt: „Danke, dass Sie ein Geschoss wie mich aufgehalten haben.“ Nun, und da Blinde denselben Gesetzen von guter oder schlechter Laune unterliegen, reagieren wir ähnlich. Vielleicht sogar noch heftiger, weil wir die Person, die uns da anfasst nicht haben kommen sehen.

Fazit, übertriebene Fürsorge ist hier fehl am Platz. Und wenn Ihr Euch unsicher seid, dann sprecht uns an, bevor Ihr uns einfach so anfasst.

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

12 Antworten auf „Auch Blinde haben mal schlechte Laune“

Schwieriges Thema wie man sich da verhaöten sollte. Ich hab auch schon erlebt das sich jemand erschrak weil ich ihn ansprach. Dabei hatte ich nur freundlich „Guten Morgen“ gesagt.

Wenn ich keine Notwendigkeit zum Helfen sehe oder direkt angesprochen werde, mache ich seither meistens einen Bogen um Blinde oder Sehbehinderte.

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Ob ein Mensch grundsätzlich schreckhaft ist hat nichts mit blind oder nicht zu tun. Es gibt Menschen, die sehr schnell erschrecken. Oder vielleicht hat diese Person gerade an irgendwas ganz anderes gedacht und war mit den Gedanken ganz weit weg. Das kann einem normal sehenden genauso passieren wie einen Blinden. Also ansprechen ist kein Fehler.

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Kenne solche Situationen aus Sicht des Sehenden. Köln, Straßenbahn, schnell schließende Türen. Der Blinde läuft in die entgegensetzte Richtung. Wenn ich ihn nicht in die richtige Richtung stupse, schließt sich die Tür. Für reden bleibt definitiv keine Zeit. Wie sollte ich mich also verhalten? Schwierige Situation für beide. Oder wie siehst Du das Lydia.
Liebe Grüße und einen schönen Abend – Matthias

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Ansprechen oder gar nichts tun. Anfassen ist ja völlig falsch. Du hast es hier mit einem erwachsenen Menschen zu tun. D.h. der sollte auch fähig sein Hilfe einzufordern, wenn er diese für notwendig hält. Verzichtet er darauf und verpasst seine Bahn, dann ist es sein Problem und nicht deines.

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Solche Situationen kenne ich leider auch und war schon einmal kurz davor soetwas zu verbloggen.
Kürzlich war ich mit dem Blindenstock in der Fußgängerzone unterwegs. Plötzlich packte mich ein Mann an den Schultern und bugsierte mich wortlos in den nächsten Laden. Dabei wollte ich nur neben dem Eingang auf meinen Mann warten.
An einem guten Tag nehme ich soetwas mit Humor, an einem schlechten…nun ja, das kann sich wahrscheinlich jeder selbst beantworten wie man sich fühlt, wenn man gegen seinen Willen angefasst wird. Die gute Absicht macht es leider nicht besser. Ich bin kein hilfloses Wesen und möchte daher auch nicht wie ein solches behandelt werden.

Hilfe anbieten? Gerne, wobei ich von mir aus frage, wenn ich Hilfe benötige (was selten vorkommt).
Ungefragt anfassen? Bitte unter keinen Umständen. Höchstens, wenn ich auf den Bahngleisen stehe und ein Zug heranbraust – aber das gilt dann für Blinde wie für Sehende gleichermaßen 😉

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Diese Thematik kann gar nicht oft genug verbloggt werden. Wir Sehenden benötigen unbedingt einen Wegweiser für die Welt der Blinden. Denn nur so kann man ein Bewusstsein dafür schaffen. Sonst geht gut gemeinte Hilfe hier in die falsche Richtung.
Also bitte weiter bloggen und ich sorge fürs rebloggen. 😉
Wünsche einen schönen Abend in diese Runde – Matthias

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Ich fasse eigentlich niemand ungefragt an. Aber wenn ich eventuell die Situation mangels Erfahrung falsch einschätzen würde, könnte so etwas auch passieren. Trotzdem, jeder hat ein recht auf schlechte Laune, ich hätte nach dem Fauxpas eher ein schlechtes Gewissen als das ich sauer wäre.

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Fragt euch doch zunächst ein mal, wie würdet ihr es selber finden, wenn man euch einfach anfasst oder wohl möglich noch irgendwo hinzieht. Und dann stellt euch vor, ihr hättet nicht mal die Chance vorab zu erkennen, das euch jemand nähert oder berühren möchte. Ich glaube, dann erübrigt sich das dganze.
Und, es kann einen guten Grund geben, das ich nicht direkt auf eine Tür zu gehe, oder dran vorbei….. Wenn eine Bahn oder Bus hält, laufe ich nur ganz selten direkt auf die Tür zu, da ja zunächst die Leute aussteigen müssen / sollen. Also steuere ich bewusst erst mal auf die Bahn oder den Bus zur, aber eben an der Tür vorbei. Dann kann ich mich am Zug oder Bus entlang auf die Tür zu bewegen und prüfen, ob noch jemand aussteigt.

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Ich hatte auch ein „lustiges“ Erlebnis wo ich ungefragt angefaßt wurde.
Wobei, danach sagte er schon etwas. Aber alleine dafür hätte ich ihn am liebsten gewürgt wie einen Truthan.

Ich bin unterwegs zu einem Geschäft in meiner Gegend um Lebensmittel einzukaufen. Fast blind ist es kein Problem für mich: Der Weg ist mir gut bekannt und es gibt kaum Verkehr. Der letzte Abschnitt war eine schnurgerade Straße ohne Querstraße. Ich bin etwa auf halben Weg dieses letzten Abschnittes, da bleibt auf der Straße der ich entlang gehe ein Auto stehen und ich wurde urplötzlich am Arm gepackt. Dem nicht genug zog mich der „hilfsbereite“ Autofahrer wortlos über die Straße.
Nachdem ich den ersten Schrecken überwand (und verstehen konnte was da eigentlich gerade passierte) erklärte ich ihm: „Hey, ich will nicht über die Straße!“ Daraufhin meinte er: „Aber bitte, ich helfe doch gerne.“ (Meine Gedanken in diesem Moment waren unaussprechlich.) Ich protestierte ein zweites Mal: „Ich will aber nicht da rüber“. Woraufhin er wieder meinte: „Ach bitte, ich helfe Ihnen doch gerne.“ Setzte mich auf der anderen Straßenseite ab, stieg in sein Auto und fuhr davon. Sicher mit dem Gedanken „eine große Heldentat“ begangen zu haben.
Ich war durch den Schreck & die Verärgerung kurz so verwirrt, daß ich für etwa zwei Sekunden überlegen mußte in welche Richtigung ich jetzt gehen muß um zu meinem Geschäft zu kommen.

„Lustig“ ist auch, wenn zur Treppe gehe und mich jemand ohne Vorwarnung am Arm packt mit den Worten: „Sie sind da falsch, die Rolltreppe ist da drübren.“

Es gibt aber auch immer wieder positive Fälle. Manchesmal spricht man mich an – wie aus einem Lehrbuch für den richtigen Umgang mit Sehbehinderten/Blinden,

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