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Blinde sind blind

Ich erkläre was blind heißt, und welche Unterschiede es gibt.

Das Bild zeigt mich an einem See im Hintergrund. Die Sonne scheint und weit hinten stehen Bäume.

Ich bin zu Besuch bei einer Familie. Wir sitzen im Wohnzimmer und unterhalten uns bei einer Tasse Tee. Es ist Herbst und so langsam wird es draußen dunkel. Normalerweise sehe ich besser, wenn es etwas dämmerig wird. Denn ich bin stark Lichtempfindlich. Aber jetzt ist es mir zu dunkel. Ich bitte meine Gastgeber um etwas mehr Licht. Es wird schlagartig still. Irgendwann fragt mein Gastgeber verwundert warum ich denn Licht haben wollte. Schließlich sei ich blind, und für mich sei ohnehin alles dunkel.

Immer wieder begegnen mir solche oder ähnliche Situationen. Daher habe ich dieses Thema für meinen nächsten Beitrag ausgewählt.

Zunächst einmal ein paar Zahlen und Fakten.

Blind ist man, wenn man auf dem besser sehenden Auge ein Restsehen von maximal 2 % hat.

Bei einem Restsehvermögen von bis zu 5 % auf dem besser sehenden Auge spricht man von einer hochgradigen Sehbehinderung.

Von Sehbehindert spricht man zwischen einem Restsehen von mehr als 5 % und weniger als 30 %.

Diese Werte gelten inklusive Hilfsmittel wie Kontaktlinsen, Brillen und andere Sehhilfen. Jemand mit einem Restsehen von 5 % erkennt einen Gegenstand aus 5 m Entfernung, den ein normal sehender Mensch mit 100 % auf 100 m ausmachen kann.

Hierbei handelt es sich lediglich um Richtwerte des Gesetzgebers. Das Restsehen von bis zu 2 % kann sich bei einem gesetzlich blinden Menschen also völlig unterschiedlich auswirken. Augenerkrankung, Lichtverhältnisse oder Tagesform können eine entscheidende Rolle spielen. Genaueres ist beispielsweise auf der Seite des deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands DBSV http://www.dbsv.org nachzulesen.

Nur etwa vier Prozent aller gesetzlich blinden menschen sehen wirklich gar nichts. Das heißt, dass sie Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden können. Alle anderen verfügen über ein mehr oder weniger verwertbares Restsehen. Somit sind blinde menschen also unterschiedlich blind.

Und so unterschiedlich wie das Restsehen sind auch blinde Menschen. Es gibt zahlreiche Mythen und Eigenschaften, welche sich um uns ranken. Ich möchte nur einige wenige aufgreifen.

Blinde hören besonders gut. Vor allem im musikalischen Bereich. Damit ist sicher das absolute Gehör gemeint. Das haben normal sehende ebenso wie Blinde Musik begabte. Ich habe es definitiv nicht. Eine sehende Musiklehrerin meines Sohnes hingegen schon. Gut, Blinde holen sich viele Informationen, die sie nicht sehen können über das Gehör. Dabei darf man jedoch nicht außer Acht lassen, dass das Gehör blinder Menschen einem Langzeittraining unterworfen wurde. Es ist also besser geschult, und nicht wie oft geglaubt wird, von vornherein besser ausgestattet.

Gleiches gilt auch für das Fingerspitzengefühl. Wenn ich Braille mit den Fingern lesen kann, dann weil ich es lange Zeit trainieren konnte, und nicht, weil ich mit besserem Tastvermögen zur Welt gekommen bin. Besonders deutlich wird das bei Menschen, die später erblinden und dann erst anfangen mit den Fingern Braille zu lesen oder ihren Tastsinn verstärkt einzusetzen. Es braucht eine Menge an Training und Willenskraft diesen zu trainieren.

Blinde sind immer so fröhlich. Sind sie das wirklich? Sind normal sehende es nicht? Wo bitte liegt der Unterschied? Ich denke, das hat damit zu tun, das Blindsein bei den meisten mit Trauer, Hoffnungslosigkeit und Pessimismus gleichgesetzt wird. Und eben das ist ein absolut falscher Ansatz, und sagt nur aus, dass diejenigen, die das behaupten von sich ausgehen. Blinde sind genauso Fröhlich, traurig, Optimistisch oder auch pessimistisch. Sie sind blind. Das ist jedoch nicht ihre einzige Eigenschaft. Es gibt blinde menschen, deren Gesellschaft ich genieße, und andere, deren Nähe ich meide. Und zwar nicht aufgrund ihrer Sehbehinderung, sondern aufgrund ihres Wesens. Und gleiches gilt auch für normal sehende menschen. Es gibt davon welche, in deren Nähe ich mich wohl fühle, und andere, die ich buchstäblich nicht riechen kann.

Blinde haben ein gutes Gedächtnis für Stimmen. Das würde ich nicht unbedingt unterschreiben. Nur weil mir jemand vor drei Monaten über die Straße geholfen hat, muss ich ihn nicht unbedingt wiedererkennen. Ein normal Sehender würde auch nicht jeden erkennen, der ihm vor drei Monaten einmal auf der Straße begegnet ist. Es sei denn er hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es gibt tatsächlich blinde, welche ein wirklich hervorragendes Gedächtnis für Stimmen haben. Davor habe ich großen Respekt; ebenso wie vor Sehenden, welche eine Art Fotografisches Gedächtnis haben.

Eines ist mir in diesem Zusammenhang bisher immer schleierhaft geblieben. Wenn uns Blinden so ein hervorragendes Gehör und Stimmengedächtnis bescheinigt wird, warum sprechen manche Zeitgenossen besonders laut und besonders gut artikuliert mit uns? Ich erlebe es hin und wieder, dass ich an einer Ampel stehe und jemand sich ganz dicht zu mir beugt und schön laut und deutlich in mein Ohr brüllt „Es ist grün, Sie können jetzt gehen“.

Fassen wir kurz zusammen. Blinde sind blind. Und nur das, es sei denn sie haben eine zusätzliche ausgewiesene Behinderung wie auch nicht blinde menschen sie haben können. Sprich es gibt auch Blinde, die eine zusätzliche Gehbehinderung oder Hörschädigung haben. Ansonsten bleibt die Sehbehinderung als einzige Sinnesbehinderung stehen. Sprich der Normalsterbliche Blinde braucht nicht angebrüllt oder wie ein kognitiv minderbemitteltes Individuum behandelt zu werden. Und ja, mit einem Blinden kann man ganz normal Treppen laufen oder Rolltreppe fahren. Und wenn der Sehende sich unsicher ist, darf er auch nachfragen.

Meine Sehbehinderung ist eine meiner Eigenschaften. Aber sie ist nicht meine einzige Eigenschaft. Zusätzlich habe ich wie ein normal sehender alle möglichen anderen Eigenschaften. So wie normalsehende können Blinde genauso nett, fröhlich, bösartig oder auch intrigant sein. Sie sind genauso groß, klein, dick, dünn oder haben alle möglichen Eigenschaften, die ein Sehender auch mit sich bringt. Und sie haben Hobbys und Leidenschaften, wie ein normal sehender sie auch hat.

Kurz, auch ein Blinder mag nicht auf seine Behinderung runter reduziert werden. Ich bin zwar auch blind, gleichzeitig habe ich schwarzes Haar, stricke gern oder bin Mutter. Alles Eigenschaften, die mich und mein Wesen ausmachen. Und ich habe einen Namen, und bin nicht einfach nur die Blinde.

Zum Schluss noch etwas zum Schmunzeln. Eine Dame, die mir auf der Straße begegnete, erklärte mir folgendes: „Ich weiß wie das ist blind zu sein. Meine Nachbarin hat einen blinden Hund“

Von lydiaswelt

Ich bin blinde Mutter von zwei Kindern. Beiträge aus meinem Alltag und dem meiner Gastautoren finden hier eine Plattform.

22 Antworten auf „Blinde sind blind“

Das ist ein seht gut geschriebener Beitrag! Ich musste schon so manches Mal schmunzeln… Es ist schon komisch, was manche Menschen meinen, mit stärkerer Lautstärke ausgleichen wollen… Ich habe hier auch schon einen älteren deutschen Herrn erlebt, der die Bedienung in der Eisdiele auf Deutsch anbrüllte, damit sie ihn verstehe. Sie sprach kein Deutsch, brüllen half auch nix, war nur unangenehm! Versuchen die Menschen auch manchmal, Kindersprache mit dir zu sprechen? Liebe Grüße

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Hallo, ich finde den Beitrag richtig informativ. Habe mich noch nie mit den unterschiedlichen Formen der Sehbehinderung (sagt man das so?) befasst und bin verwundert über die genialen Einstufungen des Gesetzesgebers.

Auch, wenn lustig, etwas zynisch…… Ich, als nicht blindes Wesen möchte Dir gerne folgendes sagen: Die Sehenden schreien Dich nur an, weil sie verunsichert sind. Steht ein Blinder neben einem, kommt man ja plötzlich in eine Situation, die man nicht kennt. Und dann schreit man glaube ich irgendwie einfach.

Meine Freunde, die kaum Deutsch sprechen, werden auch ständig angeschrien, obwohl man ja nur langsam und gut artikuliert sprechen müsste.

Ich glaube, dass jegliche Abweichung von „normal“ die Menschen schnell überfordert und die Reaktion echt aus Unsicherheit entsteht.

Ich schreie mal leise und liebe Grüße rüber!

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Hat dies auf Thor & die blinden Simulanten rebloggt und kommentierte:
Blind ist nicht glrich blind .Jeder ist irgendwie anders blind . Herr Simulant ist anders blind als Frau Simulant und der oder die blinde die ihr vielleicht kennt ist evtl.wieder anders blind . Ein sehr gut geschriebener und erklärter lesenswerter Text

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Aber wie kannst du Nägel so treffsicher auf den Kopf hauen? Du bist doch blind! *grins*
Damit komm‘ ich klar, da find‘ ich mich wieder.

Apropos ‚andere Eigenschaften‘: Ich saß damals im Studentenwohnheim einmal mit ein paar Freunden abends in geselliger runde zusammen. Es war auch der neue Nachbar eines Freundes dabei. Ich hatte eine für einen Außenstehenden wohl etwas freche Bemerkung gegenüber meinem Freund Theo gemacht, woraufhin er in seinem unnachahmlichen vogtländischen Akzent lachend entgegnete: „Markus, Du bist echt ein kleines Arschloch.“
Der Neue war entrüstet und meinte, Theo könne doch nicht Arschloch zu mir sagen, denn ich sei doch blind. Da legte Theo seinen Arm um meine Schultern und sagte: „Mein Freund Markus hat ein verdammtes Recht darauf, ein Arschloch zu sein! Das ist gelebte Inklusion hier!“ 🙂
Ganz genau; ich habe auch noch andere Eigenschaften. Meistens bin ich aber sehr nett.

Apropos ‚Stimmengedächtnis‘: Ich freue mich auf unser 20-jähriges Abitreffen im kommenden Jahr, und ich habe Respekt vor der flut an einst vertrauten Stimmen, die ich zum Teil seit dem Abi nicht gehört habe. Hinzu kommt, dass ich zu der Zeit noch sehen konnte. Sicher wird mich keiner testen wollen, ob ich seine oder ihre Stimme erkenne, aber Stimmen verändern sich eben auch, und ich möchte auch nicht, dass sich jemand mir gegenüber unsicher fühlt. Erst kürzlich traf ich eine Schulkameradin bei der Hochzeit zweier Schulkameraden, und da musste ich wirklich ganz hart überlegen. Ich kam dann aber per Ausschlussverfahren drauf. 😉

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Hi, Lydia,
du schreibst exakt, was mir zur Zeit vermehrt durch den Kopf geht und das ganz klar und nachvollziehbar!
In meinen aktuellsten beiden Beiträgen geht es auch um das Verhalten, dass man gehandicapten Personen entgegenbringt, daher habe ich eine Menge über diese Thematik nachgedacht. Es fasziniert und entsetzt mich gleichermaßen, wie viele „Gerüchte“ es um uns seltene, exotische Spezies gibt. Es gibt die unterschiedlichsten Menschen auf der Welt und man sollte meinen, gerade in unserer Zeit wären Offenheit und Toleranz und Verständnis für Vielfältigkeit viel weiter verbreitet. Trotzdem fühlt man sich – oder ich zumindest – als stark Sehbehinderte manchem richtig fremd. Mit mir wird auch oft lauter geredet, man spricht für mich, bevormundet mich und nimmt mich nicht ernst (natürlich nicht immer). Da kommt man sich manchmal wie das größte Unikum vor.
Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen unsere Beiträge lesen und sich die Botschaft verbreiten würde, dass Behinderte ganz normale Menschen sind. Natürlich unterscheidet sich unser alltägliches Leben in vielen Punkten, aber das Menschsein ist uns allen gemein – wir fühlen alle dasselbe, wenn auch je nach Situation aus anderen Gründen. Der eine ist blind, der andere blond, der nächste kann nicht lesen, wieder jemand ist schüchtern… das sind Facetten des Menschen und nichts, was uns trennen, sondern etwas, das uns verbinden sollte.
Liebe Grüße
Lizzi

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Vielleicht interessiert das: Vor vielen vielen Jahren fuhr ich aus familiären Gründen mit dem Zug von Frankfurt nach Athen, so um die 60 Stunden dauerte das und war eine ziemliche Strapaze. In meinem Abteil saßen zwei junge Schwedinnen, die eine sehend, die andere blind. Die Blinde war, wie ich erfuhr, Lehrerin an einer Schule für normal Sehende. Das war damals (so um 1972 herum) in Schweden schon möglich, und die Erfahrungen waren außerordentlich gut, denn die Kinder lernten schnell, das fehlende Sehvermögen der Lehrerin zu kompensieren, anstatt es auszunutzen. Ich stellte dann die Frage, was sie als Nicht-Sehende zu einer solchen strapaziösen Südland-Fahrt bewog. Sie meinte, für sie sei eine Reise genauso interessant wie für Sehende, nur dass sie eben nicht sehe, aber doch auch höre, schmecke, rieche, fühle, sich verliebe, neue Erfahrungen sammle, lerne… Sie befragte mich nach griechischen Ausdrücken der Alltagssprache und stichelte sie in ihre braille-Tafel. Sie lernte während der Fahrt sehr viel Griechisch, ihre sehende Freundin aber kein einziges Wort, da sie mit dem Sehen beschäftigt war. Eine sehr fruchtbare Kooperation. Für mich war das eine prägende Erfahrung.

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Hat dies auf Marcos Leben rebloggt und kommentierte:
Oh ja, das, was Lydia hier schreibt, ist mir fast wörtlich auch schon öfter passiert. Auch ich habe ein hell-Dunkel-Restsehen und mag es nicht im Dunkeln zu sitzen, gerade im herbst und Winter. Und bei Menschen, die mich nicht gut kennen, hat das auch schon zu Irritationen und fast wörtlich derselben Frage geführt. Auch viele der anderen Mythen wurden schon vielfach an mich herangetragen und auf mich anzuwenden versucht. Danke Lydia für die Erinnerung an diesen Beitrag von Dir!

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